Mitten in Bad Tölz:Der Charme des alten Gockels

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Mindestens eine Frau wird sich bei dieser Laudatio gedacht haben, sie wollt', sie wär kein Huhn...

Von Claudia Koestler

Was könnte man nicht für wunderbare Essays schreiben, um dem Charme zu huldigen. Jener herzerwärmenden Eigenschaft, die Menschen haben können, jenes bezaubernde Verhalten mit einem Schuss an Unberechenbarkeit, das nie zum Nachteil des Gegenübers geht. Ja, darüber ließe sich trefflich dichten und sinnieren - wenn sich nicht stattdessen immer wieder eine ganz besondere Variante in den Vordergrund der Wahrnehmung drängen würde: der Oberlandler-Charme.

Schon öfters war diese regionale Ausprägung Gegenstand dieser Glosse, und ein weiteres Beispiel wollen wir an dieser Stelle nicht unter den Teppich kehren. Die Namen der Beteiligten können aus verständlichen Gründen nicht genannt werden. Es war ein älterer Herr, der im Rahmen der Delegiertenversammlung des Seniorenbeirats im Landratsamt das Wort ergriff und eine Laudatio auf eine Mit-Delegierte ankündigte, eine ältere Dame. "Jetzt weiß ich endlich, an was du mich erinnerst, seit ich in Afrika im Urlaub war - an ein Tier", setzte er an. Das Auditorium horchte auf. "An ein Guinea-Fowl, ein afrikanisches Huhn!" sagte er. Der so angesprochenen Dame blieb bei dem Vergleich mit dem als Perlhuhn bekannten Vogel die Luft weg. Schließlich liegt es schon lange zurück, dass die Comedian Harmonists fröhlich sangen: "Ich wollt', ich wär' ein Huhn". Wer kann sich denn heute noch vorstellen, ein Federvieh zu sein?

Natürlich hat der Oberlandler-Charme seine Ecken und Kanten, entbehrt aber nicht völlig des Liebreizes. Deshalb versuchte der Laudator den Spannungsbogen zu einem versöhnlichen Ende zu führen, nämlich mit der vergleichenden Schlussfolgerung: "Dieses Huhn ist neugierig, flink auf den Beinen und im Kopf und schön anzuschauen - wie du". Ach, wenn er an dieser Stelle nur nicht weitergesprochen hätte: "Vor allem ist es schmackhaft", setzte er nach. Um noch anzufügen, er wolle damit nicht andeuten, dass er vorhabe, die Dame zu rupfen. Immerhin.

Bei dieser Lobrede wurde klar, dass der eigentliche Charme des alten Vokal-Couplets darin bestand, dass die Hörer sicher sein konnten, niemals eine Hühnerexistenz führen zu müssen. Die so Bezeichnete jedenfalls nahm den flatterhaften Vergleich sowie eine kleine Perlhuhn-Plastik mit Würde und einer hochgezogenen Augenbraue entgegen. Vielleicht hatte die Huhnwerdung ja vielmehr den Laudator ergriffen. Das könnte eine solch kopflose Charmeoffensive erklären.

© SZ vom 10.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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