Mitten in Bad Tölz:Ansichten für alle

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Wer nicht an Tante Erna versendet werden will, muss im Slalom durchs Zentrum

Von Klaus Schieder

Es hat etwas Anachronistisches, dass in Bad Tölz so viele Ständer mit Ansichtskarten vor den Buchhandlungen, Souvenirläden und Schreibwarengeschäften stehen. Gerade so, als schriebe man immer noch die Siebzigerjahre. Damals griff der Urlauber nolens, volens zum Kugelschreiber, um Tante Erna in Kleinhinterhausen hinter einem Abbild seltsam gewandeter Eingeborener viele, liebe Grüße aus dem Bayernland zukommen zu lassen, es geht uns allen gut, die Sonne scheint, wir machen morgen einen Ausflug nach . . . Der moderne Tourist hat solch schriftstellerische Übungen nicht mehr nötig. Er hat sein Smartphone dabei, fotografiert sich selbst und postet sein Grinsen an die echten, nicht ganz so echten und unechten Freunde auf Facebook.

Da sieht man sie denn allenthalben stehen: Ein Liebespaar, das auf dem Gehsteig der Isarbrücke eng umschlungen ein Selfie schießt, die Kalvarienbergkirche dekorativ im Hintergrund; eine italienische Reisegruppe, die mit ihren Handys konzentriert die lüftlbemalten Bürgerhausfassaden in der Marktstraße abscannt, während ihr Leiter für sich selbst ein bisschen was über Tölz erzählt; zwei Mädchen, die ein Foto vom nackten Brunnenbuberl für "swag" halten - was vielleicht so viel heißt wie cool oder schwedisch oder schweinisch oder was auch immer; und dann ist da natürlich noch der Feriengast, der sich um die eigene Achse dreht und dreht, um eine Panorama-Aufnahme zu bekommen mit Isar, Franziskanerkirche, Marienstift und einem Passanten, der an der Fußgängerampel in der Nase bohrt.

An manchen Tagen ist der Gang durch Bad Tölz für einen Eingeborenen wegen der vielen Hobbyfotografen gar nicht so einfach. Er muss sich unter all den Smartphones und i-Pads und Handys hindurchducken, abrupt stehenbleiben, zur Seite strecken oder hintenrum ausweichen, wenn nicht all die Tante Ernas und unechten Freunde dieser Welt sein Konterfei sehen sollen. Dabei kann es schon mal vorkommen, dass er infolge dieser Verrenkungen mit dem Kopf versehentlich gegen einen Postkartenständer stößt.

© SZ vom 12.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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