Mitten im Garten:Nachbars Zwetschgen

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Ist es schlimm, Nachbars Obst zu essen, wenn der es ohnehin nicht erntet?

Von VIKTORIA GROSSMANN

Oft im Leben kommt man in Situationen, da muss man ganz nüchtern ein Vergehen gegen seinen Nutzen abwägen. Zum Beispiel: Ist es schlimm, bei Rot über die Straße zu gehen, wenn es keiner sieht und man dafür noch die S-Bahn erwischt? Darf man die Kaffeesahne im Café mit nach Hause nehmen, weil die Katze sie so gerne trinkt, aber eigentlich gar nicht verträgt? Und ist es schlimm, Nachbars Kirschen zu essen, wenn der sie ohnehin nicht erntet?

Es handelt sich im konkreten Fall zwar gar nicht um Kirschen, sondern um Zwetschgen. Sie hängen vielerorts in der Region reif und unabgeerntet herum. An einem Haus in der Königsdorfer Hauptstraße zum Beispiel, oder in Icking. Und bestimmt bei vielen gerade nebenan, vorm Fenster. Blau und prächtig. Sie hängen erstaunlich hoch, sind aber gewiss nicht sauer. Ihr Anblick erinnert an diesen herrlichen Spätsommertag im Garten der Verwandten, als man als jüngstes Mitglied der Familie so viele Pflaumen aß (das ist ein anderes Wort für Zwetschge), dass am Ende der Papa leise fluchend die Polster der Rückbank im Auto säubern musste. Was beim erwachsenen Kind bis heute keinerlei Lerneffekt zeigte.

Wer diese Pflaumen in Nachbars Garten sieht, der sieht schon den Zwetschgendatschi vor sich, der hat schon den herben, würzigen Geschmack des Mus' auf der Zunge - kurz, der möchte einfach zugreifen.

Die Frage aber: Wäre das jetzt Mundraub? Ist das Vergehen am Eigentum des Nachbarn größer als das am Baum, der umsonst Früchte hervorbringt, die traurig am Boden zerplatschen und allenfalls den Insekten ein Genuss sind? Muss vielleicht im Landratsamt eine Kommission zur Ernte vernachlässigter Gartenfrüchte gegründet werden?

Man stellt sich das so vor: Es klingelt an der Haustür und draußen steht ein Mann in Mantel, mit Aktentasche und Dienstausweis, der noch zwei Leute in grünem Overall und Leiter mitgebracht hat. "Guten Tag, Erntekontrolle. Wir müssen heute leider die Zwangspflaumenernte vollstrecken. Sie können wählen, ob sie die Früchte zum Kuchenbacken oder für Obstler freigeben." Nie mehr würde das Obst verkommen. Oder fassen wir uns doch noch ein Herz, klingeln beim Nachbarn und fragen, ob er vielleicht einfach Hilfe bei der Ernte - und dann eben auch beim Verzehr - braucht?

© SZ vom 22.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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