Mitten im Frühling:Ein Heim ganz ohne Bau-Silikon

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Die Amsel ist's, nicht die Nachtigall

Von Berthold Neff

Wenn an dieser Stelle schon über ein Lebewesen mit dem wissenschaftlichen Namen Turdus merula berichtet wurde, so nur deshalb, weil es von allgemeinem Interesse ist, wer die Ruhestörung zu verantworten hat, die in unseren Breiten bereits vor der Morgendämmerung beginnt. Die Amsel ist's, die es bei guter Form mit jedem Wecker aufnehmen kann, dabei aber tatsächlich erstaunliches musikalisches Talent offenbart. Beim Reviergesang zum Beispiel, der von exponierten Stellen, sogenannten Singwarten aus vorgetragen wird, üben sich die Amselmännchen gerne im Kontergesang, indem sie auf die Strophe antworten, die ihr Nachbar gerade dargebracht hat. Und sie improvisieren gerne, nehmen beispielsweise die gängigsten Klingellaute von Handys - im wahren Leben schon nervend - oder aber das Martinshorn der Rettungswagen in ihre Songs auf.

Alles schön und gut, aber selbst ein solcher Luftikus von Musiker braucht ein ordentliches Haus, um seine Brut aufzuziehen. Forscher sind sich uneins, ob die Männchen bei der Nistplatzwahl mitreden dürfen. Gerecht wäre es nicht, denn das Weibchen baut das Nest völlig alleine. Die Basis formt es aus dünnen Zweigen, groben Halmen, Moos und Flechten, gerne auch aus Plastikresten unserer Wohlstandsgesellschaft, fügt etwas feuchte Erde hinzu und geht dann zu feinerem Material über, um die Nestmulde zu formen. In Ermangelung von Bau-Silikon glättet es dieses kunstvolle Konstrukt mit Lehm oder Schlamm, wartet dann die vorgeschriebene Trocknungsphase laut DIN-Norm von 24 Stunden ab und garniert alles mit etwas Gras und ein paar Blättern. Spätestens am dritten Tag nach dem Einzug ist dann bereits das erste Ei fällig. Die Wahl des Standortes erfolgt ohne viel Federlesens. Die Amsel hat sich schon Nester in drehenden Kränen oder im Motorraum von Autos gebaut - Letzteres allerdings nur, wenn die Karren abgemeldet waren. Und nun nistet sie also hier neben der Terrasse, im Dickicht des Geißblattes, immerhin in zwei Metern Höhe. Olfaktorisch ist das eine Verbesserung, denn hier stinkt es nicht nach Motorenöl, es duftet lieblich nach Ambrosia.

Es stellen sich abschließend also drei grundlegende Fragen, die sich mit Lebensqualität und tatsächlich gelebtem Leben beschäftigen. Wie wirken sich diese Düfte auf die Jungen aus? Und: Werden sie später die Schnäbel rümpfen, wenn ihnen zugemutet wird, in der Erde nach Schnecken, Blutegeln oder Lurchen zu wühlen? Noch wichtiger aber ist dies: Erleben sie's überhaupt? Es gibt nämlich Raubtiere in der Gegend. Das Eichhörnchen haust im Ahorn ein paar Meter weiter, und in der Nachbarschaft gibt es ein paar Stubentiger. Vorsicht also, sonst ist alles für die Katz.

© SZ vom 12.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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