Mitten auf der A 95:Wo die Zeit sich dehnt

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Dem modernen Menschen mangelt es eigentlich nur an einem - Zeit

Von David Costanzo

Dem modernen Menschen mangelt es eigentlich nur an einem - Zeit. Alles muss zackzack gehen; ja, Chef, bin schon fast fertig; Kind, lauf schneller, sonst kommen wir zu spät zur Leistungsschwimmtrainingseinheit; ich habe nur sieben Sachen eingekauft, lassen Sie mich sofort zur Schnellkasse durch. Und so muss man der Autobahndirektion Südbayern sowie der Verkehrspolizeiinspektion Weilheim für dieses kostbarste aller Geschenke dankbar sein: Tempo 60 auf der A 95-Baustelle zwischen München und Dreieck Starnberg, strengstens kontrolliert mit modernsten Blitzern.

Selten hat eine Fahrt so lange gedauert, selten war sie so genüsslich. Alle Autos schleichen rechts. Keiner drängelt, keiner überholt mit 120 Sachen. Alle schalten einen Gang zurück. Die Entschleunigung lässt sich bereits an der Verschiebung der Lenkradhaltung der Hände ablesen - man denke an die Zeiger einer Uhr: Von der gestressten Zehn-vor-zwei-Position geht es in den normalen Viertel-vor-drei-Griff über und weiter in die lässige Zwanzig-vor-vier-Stellung - das ergibt eine Stunde und 50 Minuten. So viel länger scheint dann auch die Fahrt durch die sieben Kilometer Baustelle zu dauern. Es sollen schon Autofahrer dabei beobachtet worden sein, die bei 30 Grad Celsius die Fenster gegen den Willen der Klimaanlage heruntergekurbelt haben, um sich ungehindert bräunen zu können, und dann in Wolfratshausen den Blinker mit Sonnenbrand im Gesicht setzten.

Raser werden zu Schleichern, Bleifüße zu Federfüßchen, Bleichgesichter zu Rothäuten. Die Verwandlung war von langer behördlicher Hand geplant, zuerst von der Landeshauptstadt München. Seit der Eröffnung des Luise-Kiesselbach-Tunnels steuern alle auf dem Mittleren Ring nicht mehr mit fröhlichen 74 Stundenkilometern und blitzerbremsbereiten Füßen über der Erde, sondern unter Tage mit kamerakontrolliertem Tempo 47, an den Ausfahrten gebremst auf nurmehr 30 Stundenkilometern. Das unwirkliche gelbliche Licht umwabert sie und führt sie in den gekrümmten Raum mit seiner gedehnten Zeit, den sie nur aus dem Physikunterricht kannten - auf dass sie nach der Ausfahrt etwa Richtung A 95 geblendet von Licht und Geschwindigkeit kaum mehr Gas geben wollen. Slow Drive heißt diese neue Bewegung.

© SZ vom 12.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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