Meistersolisten im Isartal:Extreme und Experimente

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Meistersolisten im Isartal: das "Amaryllis Quartett" mit Gustav Frielinghaus, Lena Sandoz, Yves Sandoz und Mareike Hefti. (Foto: Hartmut Pöstges)

Das glänzende Amaryllis Quartett interpretiert in Icking Felix Mendelssohn Bartholdy und Wolfgang Rihm

Von Paul Schäufele

Es dürfte niemanden wundern, dass dem Amaryllis Quartett die Ehre zukommt, als "Quartet in Residence" quasi das Maskottchen der Ickinger "Meistersolisten im Isartal" zu sein. Die vier Streicher konzertieren überall und haben einige Preise geholt. Doch solch ein Ruf möchte verteidigt sein. Und so beweisen Gustav Frielinghaus, Lena Sandoz, Mareike Hefti und Yves Sandoz Konzert um Konzert, wie in ihrer Formation Klangphantasie und technische Souveränität auf symbiotische Weise zusammentreffen. Im Ickinger Rilke-Gymnasium erkundet das Quartett am Samstag Musik vom frühen, mittleren und späten Felix Mendelssohn Bartholdy sowie von der Karlsruher Komponisten-Legende Wolfgang Rihm.

Mit Mendelssohns Opus 12 ist dann auch noch ein wenig Beethoven anwesend. Das frühe Streichquartett zeugt von der Beschäftigung des Komponisten mit dem Bonner Meister und dessen "Harfenquartett" (ebenfalls in Es-Dur). Doch wo Beethoven die Melodien mit Zacken und schroffen Akzenten versieht, entwickelt sich bei Mendelssohn ein breit dahinströmender Gesang. Mit knisternder Wärme gibt das Amaryllis Quartett den Kantilenen des Kopfsatzes den nötigen Raum zur Entfaltung ohne je zu schleppen oder die besonders rührenden Stellen zu betonen. Das ist auch nicht nötig, der konzentrierte, ausnehmend klangschöne Ton des Ensembles verleiht jedem der Stücke den angemessenen Grad an Innigkeit.

Dazu kommt, dass die vier Musiker die orchestralen Qualitäten der Kammermusik Mendelssohns nicht zurücknehmen - warum auch? - sondern geradezu ausstellen. In der filigranen, scherzoartigen Canzonetta gibt es dazu zunächst wenig Gelegenheit. Vorsichtig schleicht sich die g-Moll-Melodie ins Hörbild, um dann von einem mit kräftigem Bass grundierten Violinenduett abgelöst zu werden - ein Muster für Mendelssohns delikaten Humor in den Scherzo-Sätzen, mit Feinsinnigkeit und Eleganz ausgeführt.

Doch in dem bewegenden Andante-Satz, einem Gebet in B-Dur, kann das Quartett mit großem Ensembleklang ausspielen, ehe das nahtlos anschließende Finale dem Ganzen ein furioses Ende bereitet. Mehr als einmal klingt dieses 1829 vollendete Stück als Vorbote zum berühmten letzten, dem f-Moll-Quartett. In Ausdrucksintensität und Formbewusstsein weist das Stück, zumal in seiner verzweifelten Suche nach dem richtigen Schluss, schon auf das 18 Jahre später entstandene Werk hin. Doch Opus 12 kriegt noch die Kurve, die letzten Takte sind beruhigtes Ausatmen. In Dringlichkeit und expressiver Dichte unterscheidet sich der Zugang des Amaryllis Quartetts zu den Mendelssohn-Quartetten nicht.

Doch bevor diese Tour d'Horizon durch die Kammermusik Mendelssohn Bartholdys fortgesetzt wird, erfreut Wolfgang Rihms 1981 komponiertes Streichquartett Nummer 4 durch Konträrfaszination. Jedenfalls der erste Höreindruck vermittelt das. Statt sangbarer Linien, die nach allen Regeln der Kunst variiert und kombiniert werden, treten hier Melodiesplitter zu einem disparaten Ganzen zusammen. Doch auch hier, zwischen angerissenen, schnalzenden, übel traktierten Saiten, unwirklichen Flageolett-Tönen, finden sich Momente verstörender Schönheit. Hier zitiert Rihm diskret die Tradition. Und das Amaryllis Quartett zelebriert furchtlos beides: die schroffen Geräuschcluster und die gelegentlichen harmonischen Momente. Womit einmal mehr bewiesen wäre, dass die Gattung Streichquartett die Gattung der Extreme ist und des Experiments.

Das zeigt auch Mendelssohns normalerweise als Reaktion auf den Tod seiner Schwester Fanny gedeutetes Opus 80. Nicht ohne Grund hat das Quartett das Rihm-Stück diesem späten Werk Mendelssohns vorangestellt. Auch hier wird der klassische Stuck abgerissen, wird die symmetrische Motivgestaltung gesprengt. Statt der Wärme von Opus 12 empfängt einen hier fahles Feuer. Es ist nicht schwer, diese Partitur leidenschaftlich zu durchglühen; die herben Akzente und das unablässige Tremolo geben schon einiges her. Die Leistung besteht vielmehr darin, bei soviel Temperament die Grenze nicht zu überschreiten, nicht alles zu betonen, sondern die Form zu wahren. Das Amaryllis Quartett beherrscht diese Differenzierung.

Am beeindruckendsten wirken dann die Momente, in denen sich die Musikerinnen und Musiker bewusst zurückhalten. So im quasi ausdruckslos gespielten Trio des Scherzos. Nach den brutalen, anklagenden Takten davor stellt sich damit der Eindruck völliger Resignation ein. Dem setzt nur der langsame Satz einige As-Dur-Klänge entgegen, die in ihrer Verzagtheit allerdings nicht viel ausrichten. Schon gar nicht gegen das mitreißende Finale, das mit Wucht die Verzweiflung des ganzen Werks bestätigt.

Nach verdienten Bravo-Rufen des Publikums kehrt das Amaryllis Quartett mit dem langsamen Satz aus Opus 44 Nummer 1 zu Mendelssohn zurück. Als würden die Töne nicht produziert, sondern entstünden von selbst - mit diesem traumhaften Eindruck schließt ein glänzendes Meisterkonzert.

© SZ vom 19.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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