Bad Tölz-Wolfratshausen:Dschungel im Kopf

Lesezeit: 2 min

"Ich fühle mich als Anwältin der Kinder", sagt Gerty Schoelen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Gerty Schoelen hatte als Lehrerin in Geretsried oft mit ADHS-Kindern zu tun. Als Heilpädagogin hilft sie nun deren Eltern

Von Thekla Krausseneck, Bad Tölz-Wolfratshausen

Gerty Schoelen - herzlich und lebhaft - kennt sich aus mit der Gedankenwelt von ADHS-Kindern. "Sie haben einen Dschungel im Kopf, keine Autobahn", sagt die 66-Jährige. Einen Dschungel, durch den sich neue Regeln und Lerninhalte erst einen Pfad holzen müssten. Was diese Kinder bräuchten, sei "ein Geländer, an dem sie sich festhalten können" - etwa feste Strukturen und Rituale. Mit so plastischen Bildern wie diesen öffnet Schoelen anderen Menschen die Augen für das Thema ADHS, kurz für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Zum Ferienbeginn ist die Heilpädagogische Förderlehrerin der Geretsrieder Franz-Marc-Schule in den Ruhestand gegangen - die freie Zeit will sie nutzen, um sich auch künftig ihrer Herzensangelegenheit zu widmen.

Schoelens Fokus liegt einerseits auf den Kindern, andererseits will sie auch die Eltern entlasten. Dafür sucht sie nach Studenten - möglichst aus dem sozialpädagogischen Bereich -, die bereit sind, sich an einem Wochenende schulen zu lassen und danach ADHS-Kinder zu betreuen, damit sich die Eltern Zeit für sich nehmen können. Gerade Mütter litten unter enormem Stress, Beziehungen hielten der Belastung oft nicht stand: "Die Eltern sind kein Paar mehr, geschweige denn ein Liebespaar", sagt Schoelen. Mütter sähen sich oft Vorurteilen und Vorwürfen ausgesetzt, obwohl sie sich bereits schwer bemühten. Für einen Termin in der Sprechstunde hat Schoelen das Postfach adhs-eltern_hilfe.schoelen@web.de eingerichtet. Studenten, die an der Schulung interessiert sind, mailen an besonderer-studenten_job.schoelen@web.de. Zudem ist Schoelen - auch in Notfällen - unter Telefon 08171/802 67 erreichbar. Die Sprechstunden finden in der Franz-Marc-Schule statt.

In ihren Beratungsstunden gibt die Heilpädagogin Einblick in die Gedankenwelt der ADHS-Kinder. Durch einen Gendefekt, der die biochemischen Vorgänge im Gehirn störe, hätten diese Kindern keinen Filter: "Wenn ich jemanden ansehe, dann sehe ich alles außen herum verschwommen", sagt Schoelen. "Ein Kind mit ADHS sieht alles scharf." Das gelte auch für Geräusche - und vor allem das Körpergefühl. Ein ADHS-Kind sei sich seiner Kleidung ständig bewusst, und auch des Stuhls, auf dem es sitze. Manche Kinder müssten sich anstrengen, um das Gleichgewicht zu halten - und könnten sich viel besser auf die Hausaufgaben konzentrieren, wenn sie dabei auf dem Boden liegen könnten. Ihnen dies zu verbieten, sei also der falsche Weg.

Schoelen hatte in ihren 26 Jahren an der Franz-Marc-Schule oft mit ADHS-Kindern zu tun. Sehr gut funktioniert habe im Unterricht das Schema des kleinteiligen Zeitplans, in Verbindung mit einer Belohnung. Eine Uhr mit Zahlen und Tierabbildungen habe etwa die Möglichkeit geboten, einen Schüler zu fragen: "Meinst du, du schaffst es, deine Aufgabe bis zum Pferd zu erledigen?" Auch wenn die Zeitspanne nur fünf Minuten betrug: Bei den Kindern habe das große Erfolgserlebnisse ausgelöst, vor allem, wenn sie obendrein "Plusstriche" und viel Lob dafür bekamen.

Fünf bis acht Prozent aller Kinder seien von ADHS betroffen. Viele seien intelligent und wollten im Grunde lernen, sagt Schoelen. Sie könnten ihre Intelligenz wegen der Reizüberflutung aber nicht immer nutzen. Nicht selten bekomme ein ADHS-Kind Depressionen oder gar Todessehnsucht, weil es oft ausgeschimpft werde. Auch deshalb will Schoelen ihre Mission in der Rente weiterverfolgen. "Mir ist das so wichtig", sagt sie, "ich fühle mich als Anwältin für die Kinder."

© SZ vom 09.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: