"100 Jahre Frauenwahlrecht":Frauenquote und mehr Mut

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Der Film- und Diskussionsabend im Marionettentheater in Bad Tölz zeigt, dass der Kampf um Gleichstellung noch lange nicht zu Ende ist. Die Geretsrieder Altbürgermeisterin Cornelia Irmer fordert Parität in politischen Gremien

Von Katharina Schmid, Bad Tölz-Wolfratshausen

"Ich hatte 1955 als Schülerin ein Poesiealbum, in dem stand: 'Sei wie das Veilchen im Moose, still, sittsam, bescheiden und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.' Kein Junge kriegte das mit auf den Weg. Diese Bescheidenheit muss aufhören!" So meldete sich eine Besucherin des Film- und Diskussionsabends zum Thema "100 Jahre Frauenwahlrecht, und jetzt?" am Freitag in Bad Tölz zu Wort. Der zitierte Spruch stand Jahrzehnte später noch in den Poesiealben junger Mädchen - und er macht deutlich, dass das tradierte Bild der Frau in der Gesellschaft und ihr Kampf um Gleichberechtigung und Gleichstellung auch 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts im November 1918 nicht zu Ende ist. Die Gleichstellungsstelle im Landkreis lud aus diesem Anlass ins Marionettentheater ein. Vor allem Frauen folgten der Einladung, die Männer im Publikum ließen sich an einer Hand abzählen.

Es war ein langer, beschwerlicher und leidvoller Weg für die Frauen in Europa, um zu ihrem Recht auf Mitbestimmung zu gelangen. Das zeigte der Spielfilm "Die Göttliche Ordnung", der den Kampf der Schweizer Frauen um ihr Stimmrecht im Jahr 1971 dokumentiert. Die Schweiz war eines der letzten Länder in Europa, in dem die Frauen das Recht zum Wählen bekamen. Vorreiter war Finnland, das ihnen bereits 1906 das Wahlrecht einräumte. Nach dem Ersten Weltkrieg zogen weitere Ländern nach, darunter Deutschland, Österreich und Polen, in den meisten anderen Staaten wie Frankreich und Italien war es spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg soweit. Der Sonderfall in der Schweiz hängt mit der direkten Demokratie dort zusammen: Männer stimmten in einer Volksabstimmung darüber ab, ob den Frauen das Wahlrecht zugestanden werden sollte. Es brauchte zwei Abstimmungen, 1959 und 1971, bis die Mehrheit der Männer mit "Ja" stimmte; im Kanton Appenzell Innerrhoden war 1990 sogar ein Urteil des Bundesgerichts notwendig, damit die Frauen dort zu ihrem Recht kamen.

"A so an nettes Küken" hatte Cornelia Irmer (re.) im Alter von 54 Jahren von einem Bürgermeister über sich hören müssen, nachdem sie 2004 zur Rathauschefin in Geretsried gewählt worden war. Dies erzählte sie im Gespräch mit der Gleichstellungsbeauftragten Karin Weiß. (Foto: Manfred Neubauer)

"Mir ging der Film richtig nah", sagte die Geretsrieder Altbürgermeisterin und Kreisrätin Cornelia Irmer, die nach der Filmvorführung den Abend zusammen mit der Leiterin der Gleichstellungsstelle am Landratsamt, Karin Weiß, gestaltete. "Ich muss jede einzelne dieser Frauen zutiefst bewundern, dass sie mit den Möglichkeiten, die sie hatten, das erreicht haben und gezeigt haben, dass diese ,göttliche Ordnung' eben nicht von Ewigkeit ist." Die Einführung des Frauenwahlrechts sei eine der "grundlegendsten Veränderungen überhaupt" gewesen, so Irmer. Und ein "Einschnitt in die männlich geprägte Welt, der tiefer war, als wir uns das wirklich ausmalen können".

Die 68-Jährige blickte auf eine jahrhundertelang männerdominierte Welt und auf den Kampf der Frauen in Deutschland um Mit- und Selbstbestimmung zurück und brachte die Entwicklungen mit ihrem eigenen Leben als Lokalpolitikerin, Ehefrau und Mutter in Beziehung. Als Irmer 2004 mit 54 Jahren zur Bürgermeisterin gewählt wurde, war sie eine Exotin unter Männern. Einer ihrer Kollegen habe beim erstmaligen Aufeinandertreffen der neuen Bürgermeisterin mit den männlichen Kollegen geraunt "A so a nettes Küken", erzählte Irmer. "Dir werde ich's zeigen", habe sie sich damals gedacht. Noch heute habe sie den Eindruck, dass "das althergebrachte Rollenbild" in vielen Köpfen verankert sei.

Irmer und Weiß machten Mut, als Frau im Leben mehr zu wagen, mitzubestimmen, das Wort zu ergreifen und auch den Schritt in die Politik zu tun. "Das würde der politischen Kultur sehr gut tun", sagte Irmer. Frauen hätten zu gleichen Themen oft andere Erfahrungen als Männer, brächten so andere Blickwinkel in die politische Debatte ein, was im Ergebnis zu "besseren Entscheidungen" für die gesamte Gesellschaft führe. Irmer sprach sich für Parität in politischen Gremien aus und sagte: "An der Frauenquote führt kein Weg vorbei." Nur so könne die Zusammensetzung der Gesellschaft in der Politik widergespiegelt werden. Die Unterrepräsentation von Frauen in politischen Ämtern und Führungspositionen sei jedoch "nicht nur ein Versagen der Männerwelt, sondern auch ein Versagen von uns selbst", sagte Irmer. "Wir müssen unsere Verantwortung endlich ernst nehmen."

© SZ vom 26.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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