Woche der Brüderlichkeit:Die Vergessenen feiern

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Minderheiten dürften keinesfalls zu Objekten in Museen degradiert werden, fordert Mirjam Zadoff. (Foto: Lino Mirgeler/dpa)

Zur Eröffnung der Gedenkreihe stellt Mirjam Zadoff, die Leiterin des NS-Dokuzentrums, die gesellschaftliche Diversität in den Mittelpunkt

Von Bernd Kastner

Mirjam Zadoff legt einen weiten Weg zurück. Sie kommt von dem, was geblieben ist an sichtbarer Geschichte, und geht zu dem, was heute (un)sichtbar ist. Und auch zu dem, was derzeit Unerhörtes geschieht in deutschen Städten und Parlamenten, als habe es keinen Holocaust gegeben.

Mirjam Zadoff, die Leiterin des NS- Dokuzentrums München, beginnt ihren Vortrag zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit, der jährlichen Veranstaltungsreihe der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, mit dem Nachdenken über "Visual History", um mit einem politischen Appell zu enden: "Um globale, rechtsextreme Allianzen abzuwehren, brauchen wir eine offene Gesellschaft, in der Minderheiten ohne Vorbehalte geschützt werden und Anteil haben an demokratischen Prozessen und an Erinnerungsdiskursen." Keinesfalls als "Objekte" in Museen, sagt Mirjam Zadoff, "sondern als aktive Trägerinnen und Träger einer vielfältigen Kultur und Erinnerung".

Was ist noch sichtbar und hörbar, wenn bald die letzten Zeitzeugen der nationalsozialistischen Judenverfolgung tot sind? Erst vor gut 30 Jahren hätten Historiker begonnen, die Erinnerungen von Überlebenden zu dokumentieren, in Ton und Bild, sagt Zadoff. Es gebe nur wenige Fotos und Filme, die den millionenfachen Mord an Juden, Sinti und Roma dokumentierten. Zu den eindrücklichsten Aufnahmen gehörten jene aus dem Nachlass von Johann Niemann, dem stellvertretenden Kommandanten des Vernichtungslagers Sobibor: Da sehe man eine kleine Gruppe junger Männer und Frauen, die sich auf einer sonnigen Terrasse amüsierten, in unmittelbarer Nähe zu den Gaskammern. Zu den Hinterlassenschaften jener Jahre gehörten aber auch die aus der Propagandaschau "Der ewige Jude", die im November 1937 im Bibliotheksbau des Deutschen Museums eröffnet wurde: 3500 Quadratmeter voll mit Zeugnissen eines hetzerischen Antisemitismus; mehr als 5000 Besucher kamen jeden Tag, sagt Zadoff.

Unter den gezeigten "Objekten" waren auch Gipsmasken deutscher Juden: Sie wurden als "Lebendmasken" in Konzentrationslagern angefertigt, mit ihnen wurden "deportierte und gequälte Menschen in Ausstellungsobjekte transformiert". Am Ende sei es den Nationalsozialisten gelungen, die gesellschaftliche Diversität, die bis 1933 in der Weimarer Republik aufgeblüht war, auszuradieren.

Und heute? Die Historikerin Mirjam Zadoff wird politisch und aktuell angesichts der durch die Städte ziehenden Pandemieleugnern, Verschwörungsfanatikern und Rechtsradikalen, von denen manche einen gelben Stern auf der Brust tragen: Nein, Geschichte wiederhole sich nicht, sagt sie. Aber sie ähnele sich doch, wenn man über Strukturen der Ausgrenzung, faschistische und populistische Ideologien oder Rassismus und Antisemitismus nachdenke. Sie warnt davor, die Nationalsozialisten als "a-menschliche Monster" zu charakterisieren, "denn gerade im Menschsein der Täter liegt die wahre Drastik und Dramatik". Fotos fröhlich feiernden Mordpersonals aus Vernichtungslagern bezeugten dies. Es gelte, aus der historischen Erfahrung zu lernen: aus der schleichenden Radikalisierung einer einst toleranten Gesellschaft; aus dem Empathieverlust gegenüber Fremden und Nachbarn; aus der Verantwortung der Unterstützer, im Falle Hitlers war das die Münchner Oberschicht; und aus der Rolle der unscheinbaren Mitläufer.

Gelingt dieses Lernen?, fragt Zadoff. Haben wir alles richtig gemacht mit der Erinnerungskultur in den deutschen Innenstädten und Parlamenten? Es gebe offenbar Defizite, sagt die Chefin des Dokuzentrums: "Was ist falsch gelaufen, wenn gewaltsame antisemitische und rassistische Übergriffe zunehmen, wenn rechtsextreme Ideologien in Polizei und Militär kolportiert werden - ohne dass eine Gesellschaft sich geschlossen und solidarisch zur Wehr setzt?"

Mirjam Zadoff weist auf eine fatale Leerstelle hin im kollektiven Erinnern: Den Umgang mit den Stätten jüdischer Kultur, und auch mit Kulturzentren von Sinti und Roma. Synagogen und andere Orte der Begegnung seien keine Erinnerungsorte der deutschen Genozide, "sie sind Symbole dessen, was vergessen wurde: die Geschichte der Vielfalt vor 1933". Diese Diversität habe sich nicht ausreichend ins deutsche Kulturverständnis eingeschrieben. Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti und andere Gruppen tauchten gar nicht oder allein als Verfolgte in den Schulcurricula auf. Diese bestenfalls partielle Sichtbarkeit sei zu wenig, auch, um rechtsradikale Tendenzen abzuwehren: "Es gilt", sagt Zadoff, und das ist ihr finaler Appell, "es gilt, neue Erzählungen zu entdecken und vergessene Menschen zu feiern."

Das Programm der "Woche der Brüderlichkeit" findet sich unter www.gcjz-m.de.

© SZ vom 08.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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