Wo die Müslischale 180 Euro kostet:Hoch die Tassen

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Ingrid Harding leitet die Produktentwicklung bei Nymphenburg Porzellan. Sie verhandelt mit Künstlern über deren Kollektionen und berät Kunden, die eigene Services wünschen, für bis zu 600 000 Euro

Von Theresa Parstorfer

Mit einem dumpfen Klatschen zerplatzt die Tasse am Boden des schwarzen Plastikbottichs. Tausend winzige weiße Scherben bleiben liegen. Die Tasse hatte eine minimale Unwucht, und in der "Porzellan Manufaktur Nymphenburg" wird sie dann eben aussortiert und landet in dem schwarzen Bottich der Dreherei. Fällt ein Fehler erst nach dem Brennen auf, wandert das Stück in die Cafeteria der Manufaktur. Dort, wo an einem Septembernachmittag Ingrid Harding sitzt und aus einem der "missratenen Stücke" Kaffee trinkt. Auf der Tasse der 48-jährigen Leiterin der Produktentwicklung in Nymphenburg soll angeblich noch ein staubkorngroßes Eisenpartikelchen zu sehen sein. Hardings Leggins, Bluse und die Blumen auf ihrem weißen Rock sind so blau wie ihre Augen und das Wappen aus Porzellan, das an der Wand der Cafeteria hängt. Das Logo von Nymphenburg Porzellan, dem zerbrechlichen Reich der Amerikanerin.

Spricht Harding über Porzellan, fährt sie mit ihren Händen durch die Luft, als würde sie gerade etwas aus roher Porzellanmasse formen. In Kentucky, ihrer Heimat, studierte sie BWL, Deutsch und Kunst, und entdeckte so ihre Liebe für Keramik und für Porzellan. "Das ist ein Material, das weich ist, aus der Erde kommt und dann fest wie Stein wird", sagt sie, "das fand ich immer schon faszinierend." Wie aus einem Erdgemisch eine Tasse wird, handgearbeitet und so teuer, dass sie gar als Statussymbol taugt. Warum funktioniert das heute noch, in Zeiten von billigstem Discounter-Geschirr?

Spricht Ingrid Harding über Porzellan, fährt sie mit ihren Händen durch die Luft, als würde sie gerade etwas aus roher Porzellanmasse formen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Vor gut 20 Jahren kam Harding nach Nymphenburg. Sie hatte sich auf die Stelle einer englischsprachigen Assistenz der Vertriebsleitung beworben. Sehr fremd sei ihr das Unternehmen hinter den gelben Mauern des Schlossrondells auf den ersten Blick vorgekommen. "Diese Figürchen fand ich eigentlich furchtbar kitschig. So viel Rokoko, so spießig", sagt sie und lacht. Ein tiefes, warmes Lachen. Sie meint die Porzellanfiguren, die neben Geschirr typisch sind für die Manufaktur in Nymphenburg. In Handarbeit wird jede Miniatur-Bulldogge, jede Ballerina, jede Jagdschloss-Szene gegossen und danach weiterbearbeitet. Filigrane Blätter werden einzeln angeheftet, Locken und Kleiderfalten verfeinert. "Aber man lernt, die Figürchen zu verstehen."

Eine Persönlichkeit würde man diesen Figuren mit den wallenden Ballkleidern, den schräg gelegten Köpfchen und dünnen Ärmchen ansehen, Bewegtheit und eine unglaubliche Liebe zum Detail. "Ich bin mir sicher, würde man jemandem so eine Figur für ein paar Tage mit nach Hause geben, er würde sie am Ende kaufen", sagt Harding. So sei es auch bei ihr gewesen, obwohl sie sich das früher niemals hätte vorstellen können.

Harding hegt eigentlich eine Vorliebe für "die krumme Tasse", für das Unvollkommene, wollte Künstlerin werden, in einem eigenen Atelier in München. "Aber hier geht das nicht so leicht wie in Kentucky, wo man einfach in jeder Scheune mal schnell ein Atelier eröffnen kann." Also habe sie 1996, nach ihrem Kunststudium mit Schwerpunkt Keramik in München, einen Job gebraucht. Und landete so in der Porzellanwelt in Nymphenburg. Ungewöhnlich sei diese Laufbahn für das 80 Mann starke Unternehmen, da normalerweise nur in der Manufaktur ausgebildete Leute übernommen werden und auch nur ausgebildet wird, wenn auch tatsächlich Bedarf besteht. Sehr exklusiv, sehr in sich geschlossen ist das Unternehmen hinter den Schlossmauern.

Ingrid Hardings Lieblingsstück ist eine Müsli-Schale aus ihrem Unternehmen, für 180 Euro. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Seit 1761 wird in den Anlagen mit dem englischen Rasen das sogenannte "weiße Gold" gefertigt, mit seit damals gleich gebliebenen Methoden und Maschinen. Gegründet vom Wittelsbacher Kurfürsten Max III. Joseph, wurde beispielsweise das "bayerische Königsservice" hier entworfen und produziert. Als Inbegriff "höfischer Kultiviertheit" wurde Porzellan damals gesehen und "diente in höchstem Maße repräsentativen Zwecken", heißt es bei Nymphenburg Porzellan. Das ist wohl ein Grund, warum noch immer von Porzellantellern gespeist wird: die Tradition, das beinahe königliche Gefühl. Und selbstverständlich das Handwerk, das Wissen, Handgemachtes und Einmaliges in der Hand zu halten. Seien es nun Kunstwerke auf Leinwand oder auf Porzellanflächen. Dieter Zeus stellt in Nymphenburg als letzter Facharbeiter in Europa das Gemisch der Porzellanmasse noch selbst her, und jedes Stück wird einzeln und von Hand bemalt, wie vor zweihundert Jahren. Die Brenntechnik hat sich jedoch geändert. Heute hat man einen immer sauberen, funktionierenden Ofen - und Brandschutzvorschriften. "Eigentlich ist es paradox. Der Kunde will handgefertigte Unikate. Aber dann darf man die Einwirkung der Hand nicht mehr sehen", sagt Harding. Deshalb auch die Ausfallrate von teilweise 20 Prozent bei den hergestellten Stücken, die jetzt die Schränke der Cafeteria füllen. "Einige Kollektionen hingegen betonen den handgefertigten Charakter." In Amerika dagegen, da werde eben "die krumme Tasse gefeiert". Da vermisse sie ihre Heimat ein wenig. "Dort kann man noch sehr viel ursprünglicher arbeiten und Unvollkommenheit in der Kunst wird akzeptiert", sagt Harding.

Was Ingrid Harding dagegen nicht vermisst, ist die Esskultur. Für ein Unternehmen, das die Unterlage für Speis und Trank liefert, ist das ein sehr wichtiger Faktor. "In Amerika muss alles schnell gehen. Da geht man Essen, wenn man keine Zeit hat", sagt sie. Sie findet es schön und auch sehr wichtig, sich Zeit zu nehmen für eine Mahlzeit, für Gäste, für Beisammensein und auch für das Porzellan. Von einem Nymphenburg-Service isst man vielleicht mit ein wenig mehr Genuss und Ruhe als von einem hundertteiligen Geschirrset für 39,99 Euro. Vielleicht. "Natürlich habe ich selbst welches zu Hause und ich nehme das auch täglich her. Ich spare das nicht auf."

Die Verbindung zur Kunst hat Ingrid Harding nie verloren, denn Teil ihrer Arbeit ist die Künstlerbetreuung. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Verbindung zur Kunst hat Ingrid Harding nie verloren, denn Teil ihrer Arbeit ist die Künstlerbetreuung. Die Tradition, mit renommierten Künstlern zusammenzuarbeiten, lässt sich fast bis zu den Anfängen der Manufaktur zurückverfolgen. Ignaz Günther, Vertreter des bayerischen Rokoko, verwirklichte sich im 18. Jahrhundert in Nymphenburg. "Nur hier haben die Künstler die Möglichkeit, wirklich alles mit Porzellan ausprobieren zu können. Für die ist das hier wie ein Bonbonladen, weil wir bereit sind, die Grenzen des Möglichen auszutesten."

Die in Frankreich lebende Künstlerin Ruth Gurvich wollte beispielsweise ein Service entwerfen, dass ihren Arbeiten aus gefaltetem Papier nachempfunden war. Andere Porzellanwerkstätten hätten dieses Vorhaben abgelehnt. Die hauchdünne Beschaffenheit des Materials sei nicht zu verwirklichen. "Und wir haben es gemacht", sagt Harding und zuckt mit den Schultern. Aus der "Lightscape"-Kollektion stammt auch ihr persönliches Lieblingsstück: eine Müslischale. Die unbemalte Ausführung kostet 180 Euro. "Die hat einfach die perfekte Größe und die perfekten Proportionen", sagt Harding und formt mit den Händen eine Schale.

Der Kunde, der wohlhabende, "möchte etwas Eigenes, etwas Besonderes, aber was das sein soll, das muss man dann erst mit ihm zusammen erarbeiten". (Foto: Alessandra Schellnegger)

Während Künstler wie Vivian Westwood, Elie Saab und Wim Devoye meist ganz genaue Vorstellungen hätten, ginge es in der Kundenberatung, Hardings zweitem Aufgabenbereich, darum, herauszufinden, was die Kunden wollen. Oft könnten diese ihre Wünsche nicht artikulieren, und sich auch nicht vorstellen, was alles möglich ist. Der Kunde, gerade der wohlhabende, "möchte etwas Eigenes, etwas Besonderes, aber was das sein soll, das muss man dann erst mit ihm zusammen erarbeiten", sagt Ingrid Harding. Signature-Serien, Maßanfertigungen - auch das ein Trend unter den Wohlsituierten, von dem man in Nymphenburg profitiert.

Harding zeigt einen Teller, der einmal als Teil eines 50-teiligen Services geplant war, das dann aber doch nicht produziert wurde. Der Rand ist von einem tiefblauen Streifen umgeben, auf den mit Blattgold feine Muster gemalt sind. "Den habe ich entwickelt. Angelehnt an arabische Kunst, um den Kunden zu zeigen, was möglich ist." Ein solches Service könnte schon an die 600 000 Euro kosten, und für das Bemalen müsste, je nach Schwierigkeitsgrad und verwendeter Farben, mit zwei Jahren Arbeitszeit gerechnet werden.

Jedes Stück ein Unikat - die Porzellanmasse hergestellt vom letzten Facharbeiter Europas und handbemalt. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Nachfrage besteht: Vertrieben wird vor allem in Europa, Amerika, aber auch Asien. In München steht im Dallmayr-Café ein Papagei aus Nymphenburg, und das Charles-Hotel Rocco Forte hat sich seine Bäder komplett mit Nymphenburg-Porzellan ausstatten lassen. Deshalb sieht man in Nymphenburg auch nicht die Notwendigkeit, auf aktuelle Trends aufzuspringen. "Wir sehen uns als stilprägend", erklärt Harding.

Kunsthandwerksberufe wie Porzellanmaler oder Porzellanmassenhersteller sind selten geworden, das mag für den Berufsstand von Nachteil sein, für das Unternehmen am Nymphenburger Schloss allerdings bedeutet es, dass man häufig mit dem Zusatz "der letzte" werben kann. Darauf einen Kaffee, der allerdings in der Cafeteria aus Porzellantassen auch nicht anders schmeckt als an anderen Orten.

© SZ vom 30.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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