Wiesn-Reportage:Noch eine Maß und noch eine und noch eine

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Zwölf Stunden im Hofbräuzelt: Britische Kampftrinker, hartgesottene Kellnerinnen und das Gefühl, genau am richtigen Platz zu sein.

Stephan Handel

Als es draußen dunkel geworden ist, gleicht das Hofbräu-Zelt einer großen, wogenden, schwitzenden, singenden Masse, ein Feld aus Händen zum Himmel, ein Meer von Menschen, die sich das Glück herbeigetrunken haben, und jetzt geht es nicht mehr weg: erleuchtete Gesichter, denen nichts fehlt, die nichts mehr und nichts weniger wollen, als genau jetzt genau hier zu sein, einen Maßkrug vor sich, ein Mädel im Arm, das Herz voll, deshalb geht der Mund über: "Hey Baby" taugt zwar nur bedingt zum Liebeslied, aber wenn es 10000 Menschen gleichzeitig singen, schreien, brüllen, dann wird der simple Song von selbst zur Hymne.

(Foto: Foto: DPA)

Das hat zehn Stunden vorher ganz anders ausgeschaut. Gerade haben sie die Türen aufgesperrt, Handwerker tragen Leitern durch die Gänge, die Bedienungen in den Boxen ziehen Tücher über die Tische und rücken Servietten zurecht, die Musik kommt noch von der CD - Märsche. Hinten aber, links von der Bühne, da sitzt eine Gruppe und trinkt sich in den Tag hinein. Simon sagt: "Vor Mitternacht gehen wir hier nicht weg."

The Munich Beer Festival

Er sagt den Satz auf englisch, denn er und seine Freunde kommen aus North-amptonshire, aus der Stadt Kettering, 140 Kilometer nördlich von London. Zum dritten Mal hat Simon die Reise aufs Oktoberfest organisiert, im Januar schon wurden zwei Tische im Hofbräu reserviert: 16 Leute sind mitgekommen, Bob, Jeff, Andy, James, Frasier, Clayton und all die anderen. Chris ist die einzige Frau.

John hat seine Freundin zu Hause gelassen: "She cannot drink." Sie tragen alle die gleichen blauen T-Shirts, vorne über der rechten Brust eine Art Wappen, "The Munich Beer Festival", hinten die Daten ihrer bisherigen Reisen, darüber der Spruch: "Ein weiteres Bier bitte". Der Einwand, das sei eine etwas zu höfliche Version des bayerischen "No a Maß", scheitert an der Sprachbarriere.

Wie im Löwenkäfig

Wieviel Maß, Andy? Zur Beantwortung dieser Frage muss er die Uhr bemühen: Wenn es neun Uhr abends ist, dann wird das der achte Liter Bier sein. (Foto: Foto: DPA)

Halb 12 mittlerweile, das Zelt ist immer noch recht leer, während drüben beim Augustiner die Menschen schon durch die Reihen schieben auf der Suche nach einem Platz. Hofbräu-Wirt Günter Steinberg findet das normal: "Das sind eher die Mittags-Zelte, bei uns geht's erst so um drei richtig los." Zwar kommen immer wieder Leute herein und schauen sich um, aber sie wirken eher, als würden sie ein Löwengehege bestaunen, dem im Moment noch die Löwen fehlen. Bei den Engländern hinten hat Clayton gerade die dritte Maß geleert und schaut schon ein wenig schief.

Um 12 kommt die Musik, die "Plattlinger Isarspatzen", seit Jahren die Hofbräukapelle. Zehn Minuten später hupen sie das erste "Prosit" ins Zelt hinaus, die Gäste kommen der musikalischen Aufforderung dankbar nach, während die beiden Saxophonisten lieber noch Kaffee aus Pappbechern trinken. Die Isarspatzen zwitschern zunächst, wie angeordnet, solide Blasmusik, Polkas, Märsche, solche Sachen.

"Hey Baby", "Viva Colonia" und "Just a Gigolo"

Das Zelt allerdings füllt sich mehr und mehr, und weil die Leute nicht zum Rumhocken gekommen sind, formiert sich gegen 14 Uhr ein Chor, der lautstark "Hey Baby" fordert - ohne weiteres übertönen sie die Kapelle, die ja bis 18 Uhr nicht lauter als 85 Dezibel spielen darf, während singende Menschen keine Lautstärkeregler haben. Endlich hat Kapellmeister Alois Altmann ein Einsehen und gibt der Masse, was die Masse begehrt, einschließlich eines hinterhergeschobenen "Viva Colonia". Danach sind die Menschen befriedigt, und Alois Altmann wird später sagen, dass sei notwendig gewesen, denn sonst würden die Leute aggressiv. Danach geht's ruhiger weiter, und weil Simon, der Engländer, mittlerweile auch schon bei der fünften Maß angekommen ist, lässt er es zu, dass Frasier ihn kräftig am Hintern betatscht, während sie zu "Just a Gigolo" durch die Gänge schieben.

Solche alkoholbedingten Geschlechtsverwirrungen sind vorne in der Hausbox natürlich undenkbar. Dort hat Günter Steinberg gerade die Vorstände der Münchner Brauereien empfangen, die sich jedes Jahr in einem anderen Zelt treffen, um mit dem Oberbürgermeister die Lage der Bierbranche zu erörtern. Christian Ude kommt gerade von der Gedenkfeier für die Opfer des Wiesn-Attentats, lässt sich aber das Mittagessen doch schmecken. Als er geht, darf sich Wiesn-Stadtrat Helmut Schmid nützlich machen und den OB mit einer jungen Asiatin fotografieren, damit die junge Asiatin was zum Herzeigen hat, wenn sie wieder zu Hause ist.

Dann sind Politiker und Brauerei-Chefs endlich gebührend verabschiedet, und Günter Steinberg zieht sich für ein paar Minuten in sein Stüberl zurück, eine Kammer hinter der Hausbox mit Eckbank und Chaiselongue. Steinberg fährt sich über die Augen: "Irgendwie bin ich müde heute." Wär' ja auch kein Wunder: Spätestens um 9 ist der Wirt in seinem Zelt jeden Tag, und ins Bett kommt er selten vor zwei Uhr früh. "Ein, zwei Tage mal geht's schon, aber 16 Tage hintereinander - das schlaucht."

380 Leute arbeiten im Hofbräu-Zelt, 45 davon in der Küche, 28 an den Schänken, bis zu 70 im Sicherheitsdienst, 216 Bedienungen. Eine von ihnen beobachtet gerade die Kundschaft in der Hausbox, weil aber augenscheinlich alle versorgt sind, kann sie schnell erzählen, dass das heuer eine sehr sympathische Wiesn sei, nicht so aggressiv, netter als die letzten Jahre. Sogar die Anmach-Versuche der Gäste, sagt sie, kommen irgendwie charmanter daher. Neulich hat sie auf der Galerie gearbeitet, da hat sie einer einfach am Arm genommen, drei mal zur Musik im Kreis gedreht und sie dann wieder losgelassen. Das hat ihr gefallen.

Günter Steinberg führt die etwas zurückgenommene Atmosphäre darauf zurück, dass die Leute wohl zumindest das Gefühl spüren, weniger Geld in der Tasche zu haben. Also trinken sie weniger, also geht die Post ein bisschen weniger spektakulär ab. "Am Bierumsatz merkt man's schon", seufzt der Wirt.

Das wollen sich die Freunde aus Kettering auf keinen Fall nachsagen lassen. Rund 800 Euro, so schätzt Bob, kosten ihn die vier Tage in München "for the trip, the hotel and for drinking". Ist aber nicht so, dass sie nur dumpf im Bierzelt hocken würden: Am Sonntag sind sie angekommen, da waren sie im Biergarten am Chinesischen Turm, was Bob mit einer Miene erzählt, als handele es sich dabei um ein Kulturprogramm. Für den dritten Tag ihrer Reise ist ein Rundgang über die Wiesn eingeplant. Heute aber, heute wird das Zelt nicht verlassen. Clayton hat unterdessen die sechste Maß in Arbeit und liebt nun die ganze Welt, weshalb er jeden umarmt, der in den Fangbereich seiner Arme kommt.

"No a Maß, bitte."

Es ist Abend geworden, draußen geht die Sonne unter, und die Hofbräu-Masse wogt wie ein Getreidefeld im Wind. Eine kleine Kanadierin, 17 Jahre alt vielleicht, fragt: "What does that mean, Zickezackezickezackehoihoihoi?" Die Sitzordnung ist jetzt aufgehoben, alle stehen in den Gängen, durch die gelegentlich die Security pflügt im Bemühen, die Leute zur Seite zu schaufeln. Nützt aber nichts - wenn die grimmigen schwarzen Männer vorbeigelaufen sind, schließt sich die Lücke hinter ihnen sofort wieder. Nur die Bedienungen bestehen darauf: Wenigstens beim Bestellen muss der Gast sitzen, weil Stehmaßen verboten sind. Das geht so: "No a Maß, bitte." - "Hinsetzen." - (Gast setzt sich.) "No a Maß, bitte." - "Glei." Dann kommt das Bier, der Gast nimmt es sitzend entgegen, bezahlt, schnappt den Krug und stellt sich hinaus auf den Gang, wo die Musik spielt.

Die Isarspatzen sind jetzt in großer Form und haben das Publikum im Griff. Niemand findet es hier merkwürdig, dass sie zuerst "Satisfaction" spielen und gleich darauf "Die Krüge hoch". Bei "Country roads" zucken Feuerzeuge, überhaupt wird dieses Lied offensichtlich besonders gerne von rotgefärbten Miederträgerinnen in ihren 40ern mitgesungen, die sich hinterher eine Feuchte aus den Augenwinkeln wischen.

Und jetzt noch ins Pub!

Am Rand des ganzen Trubels steht ein Mann, grüner Trachtenjanker, silberner Haarkranz, Franz Bauer, 74 Jahre alt. Er findet das Tohuwabohu nicht so schlimm, in den 60er Jahren war's ärger, die Schlägereien mit den Australiern damals, dass das Einsatzkommando kommen musste. Am schönsten aber war's in den 50ern, da hatten sie einen Stammtisch im Hackerzelt, jeden Tag, ganz gemütlich. Eigentlich, sagt Franz Bauer, geht er ja gar nicht mehr auf die Wiesn. Aber jetzt hat er bei einem Preisausschreiben einen Gutschein für eine Maß und ein halbes Hendl gewonnen, den wollte er einlösen. Als die Bedienung ihm das Essen hingestellt hat, hat sie gesagt: "Was wolln S' denn da herin, da schmeckt's doch nicht." Hat er sein Hendl genommen und hat's draußen gegessen, im Biergarten.

Franz Bauer versäumt nun, gegen 21 Uhr, allerdings eine ganze Menge. In den Gängen gibt es jetzt nämlich die Vereinten Nationen des Hofbräuzelts. Die englische Gruppe, mittlerweile auf vier Männer geschrumpft, verbrüdert sich gerade mit einem Rudel Koreaner, Simon, obwohl schwer gezeichnet, hält aus Dokumentationsgründen sein Fotohandy dazwischen. Sein Kumpel Andy erinnert sich daran, dass er ja mal in Deutschland bei der Army war, zehn Jahre ist das schon her. Aber von den paar Brocken Deutsch, die übrig geblieben sind, fällt ihm gerade kein einziger ein. Wieviel Maß, Andy? Zur Beantwortung dieser Frage muss er die Uhr bemühen: Wenn es neun Uhr abends ist, dann wird das der achte Liter Bier sein. Jetzt allerdings, die Koreaner sind weg, drängt Simon schwankend zum Aufbruch. Ist's genug, ab ins Hotel? "Nein", bringt Simon heraus, "da ist dieses Pub vom letzten Jahr, da gehen wir jetzt noch hin." Dreht sich um, sucht den Ausgang. Auf seinem blauen T-Shirt steht: "Ein weiteres Bier bitte", und darunter: "Wunderbar".

© SZ vom 30.09.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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