Weckruf von Hans-Jochen Vogel:Bayern-SPD, höre die Signale!

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SZ-Zeichnung: Dieter Hanitzsch (Foto: Dieter Hanitzsch)

Leser sind begeistert von der kritischen Wortmeldung des 91-Jährigen und raten der neuen Landeschefin Kohnen, sich daran zu orientieren

"Die verdrängte Herausforderung" vom 11./12. November mit einer Analyse des SPD-Politikers und Alt-Oberbürgermeisters Hans-Jochen Vogel sowie die Beiträge "Eine geht voran" (14. November) und "Vorwärts links durch die Mitte" (24. Oktober) über die Befindlichkeit der Bayern-SPD und deren neue Landesvorsitzende Natascha Kohnen:

Beschämend und ermutigend

Ein fast 92-Jähriger liest den Politikerinnen und Politikern in Deutschland die Leviten. Beschämend, dass Hans-Jochen Vogel, der schon seit Jahrzehnten kein politisches Mandat mehr innehat, auf die wahren Probleme in Deutschland hinweisen muss. Seine Aussagen zum Umgang mit Grund und Boden weisen eben nicht auf die Symptome, sondern auf die tiefer liegenden Ursachen hin. Ursachen, die auch dazu beitragen, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklaffen wird.

Während CDU, CSU, Die Grünen und FDP in Berlin sich millimeterweise einer regierungsfähigen Konstellation nähern und dabei lediglich ihre Positionen zu öffentlichkeitswirksam verkaufbaren Themen verschieben, bleibt der Umgang mit dem Boden, dem Grundeigentum, wohl wieder unangetastet.

Martin Schulz wäre gut beraten gewesen, hätte er sein Programm der Gerechtigkeit inhaltlich von einem echten Politprofi vom Schlage eines Dr. Vogel auffüllen lassen. Der anfängliche Zuspruch nach der Nominierung zum SPD-Kanzlerkandidaten kann auch als Hoffnung auf echte Politik gesehen werden. Dass dann allerdings keine beziehungsweise viel zu wenige inhaltliche Aussagen (Höhepunkt: das Fernseh-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz) folgten, straften die Wählerinnen und Wähler insoweit konsequent am Wahltag.

Ermutigend ist, dass der "alte Knacker" Hans-Jochen Vogel seinen Mund inhaltlich präzise aufgemacht hat: Jetzt kann seine Partei (in der Opposition) mit diesen Kernaussagen in Ruhe eine wirkliche Politik zum Wohle des Volkes vorbereiten, und mir persönlich gibt es die Gewissheit, dass man auch im höchsten Alter den Blick für das Wesentliche haben kann. Wolfgang Kuhn, München

Watschn für die SPD

"Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" (Grundgesetz). Und: "Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- und Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen" (Bayerische Verfassung).

Es ist das Verdienst von Alt-OB Jochen Vogel, uns und seine SPD darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass die Politik, genauer die Parteien, verpflichtet sind, Verfassungsgrundsätze durch Gesetze rechtsverbindlich zu machen. Von der CSU ist das in diesem Fall nicht zu erwarten. Also auf geht's, bayerische SPD! Macht was draus! Peter Klimesch, München

Rückbesinnung auf ein sozialdemokratisches Profil

Wie schräg ist das denn, wenn führende Personen der Partei sich mithilfe weichgespülter unpräziser Formulierungen an den klaren Inhalten vorbeihangeln? Rechtsruck, Linksruck, linke Politik für die Mitte, und so weiter. Da wird über die Form der Flasche gestritten, um ja nicht die bittere Medizin trinken zu müssen. Man könnte ja einzelne Genossinnen vergrätzen, die man/frau womöglich noch braucht? Schon jetzt will es offenbar keiner gewesen sein, wenn die nächste Landtagswahl ein Desaster geworden ist. Ich bin 1971 nicht in diese Partei eingetreten, um jetzt diesen semantischen Eiertanz zu ertragen. Grundwerte der Partei? Vorher lieber "Leitfragen" formulieren? Da gehen Natascha Kohnen die Fragen laut SZ-Artikel nicht aus - und Antworten habe sie selbst auch noch keine?

Vielleicht sind diese Fragen aber gar nicht relevant für die sogenannten "kleine Leute"? Übrigens ein böser, abwertender Begriff - unbrauchbar für unsere Partei. Relevante Fragen sind ganz klar: Wie sicher bin ich vor Kriminalität geschützt? Wie verlässlich ist meine Rente irgendwann? Wie sauber ist die Luft, die ich atme, der Boden, auf dem ich stehe, die Nahrung, die ich esse? Wie gut sind die Kindergärten, die Schulen für meine Kinder? Werden sie gefördert oder ausgesiebt? Habe ich auch in zehn Jahren noch eine Arbeit, die meinen Lebensunterhalt sichert und mir meine Würde lässt, et cetera? Wenn all das beantwortet wurde, können wir uns nobleren Fragestellungen zuwenden wie: Was ist Freiheit? Wie viel Daten darf der Staat auf Vorrat speichern? Ist unsere Wirtschaftsordnung ein Grund für die Fluchtbewegungen, und so fort?

Wer sich verirrt hat, muss den Weg zurückgehen bis zur letzten bekannten Kreuzung, an der er/sie wohl falsch abgebogen ist (alte Wanderregel - gilt auch für politische Gruppierungen). Für mich ist dieser Rückzugs- und Neustartort das altehrwürdige Godesberger Programm - sicherlich hier und da zu aktualisieren. Die SPD braucht kein "linkes Profil", es reicht vollkommen, wenn sie zumindest eines hätte. Natürlich stehen wir, wenn wir Volkspartei bleiben/wieder werden wollen, in der Mitte der Gesellschaft mit einem leichten Drall nach links, da wo eben das Herz ist bei den meisten Menschen. Aber auch so ein tendenziell linkes Pumporgan dient dem ganzen Körper. Wir sind auch keine Klientelpartei wie die FDP oder die Grünen, die den Besserlebenden, Besserverdienenden, Besserwissenden noch ein paar Zuckerl dazu besorgen wollen. Wir standen immer auf der Seite der breiten Massen und für die Verbesserung ihrer Rechte und Lebensbedingungen ein: Das sogenannte Proletariat im Kaiserreich, die Arbeiter und Angestellten in der Weimarer und in der Bonner Republik. - Und in der Berliner Republik? Ein ewiges Dilemma der Sozialdemokratie scheint zu sein, dass sie ihren Wählerinnen und Wählern zu sozialem Aufstieg verhilft und sich damit von ihnen entfernt.

Wo ist das "Proletariat" unserer Tage, die große Masse, die auf politische Repräsentanz wartet? Man muss es leider sagen: Zum größeren Teil bei der AfD gelandet, der Rest bei der SPD, wohl auch bei CDU/ CSU. Die neue Mittelschicht versammelt sich in der FDP und bei den Grünen, wo smartes Outfit, flotte Sprüche und eine ökologisch heile Welt Attraktionen sind. Wir müssen wieder deutlich machen: Wir übersehen nicht die prinzipielle Interessenkollision zwischen Kapital und Arbeit. Wir versuchen den Spagat zwischen Ökologie und Ökonomie vernünftig hinzubekommen, denn was bringt ein Arbeitsplatz in verschmutzter Umwelt, was eine Arbeitslosigkeit in der grünen Idylle? Wir stehen für hochwertige Bildung. Wir gestalten eine offene Gesellschaft, weil wir in der Mitte des Kontinents immer schon Einwanderungsland waren. Dabei gilt es, die offenen Türen durch ein Einwanderungsgesetz zu kontrollieren, weil ein Gemeinwesen sich nicht überfordert fühlen darf. Politisch Verfolgte genießen Asyl. So könnte es weiter gehen, und ich zumindest würde eine solch konturierte Partei gerne wählen. Dr. Klaus Neumann, München

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© SZ vom 20.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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