Was wurde aus ...:"Not macht erfinderisch"

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Jermabelle Westner hat sechs Jahre als Straßenkind in den Slums von Manila verbracht. Bald will sie mit ihrem Hilfsverein dorthin fliegen. (Foto: Robert Haas)

Jermabelle Westner wollte mit ihrem Hilfsverein auf die Philippinen fliegen und dort ein Gemeindezentrum aufbauen. Doch dann kam Corona

Interview von Martina Scherf, München

Die Pläne für dieses Jahr klangen vielversprechend. Nachdem Jermabelle Westner und ihre Freunde vom Verein "Matulong-hilfreich" 2019 unermüdlich Spenden gesammelt hatten, wollten sie auf die Philippinen fliegen und ein neues Projekt auf die Beine stellen. Ein Gemeindezentrum, in dem Frauen und Kinder Schutz finden und Schulbildung erhalten. Doch dann kam Corona. Die Verzweiflung auf beiden Seiten war groß, bei den Helfern und bei den Menschen, die in ihrer Not keinerlei staatliche Hilfe erwarten können. Jermabelle Westner, 24, hat selbst sechs Jahre als Straßenkind in den Slums von Manila verbracht. Es war die Hölle, sagt sie. Doch sie gab damals nicht auf. Als sie elf war, hat ihre in Bayern lebende Tante sie gefunden und adoptiert. Jetzt hilft die junge Frau selbst Kindern in Not. Und ihr Verein (www.matulong.com) ist gewachsen.

SZ: Wie geht es Ihnen in diesem außergewöhnlichen Jahr?

Jermabelle Westner: Danke, es geht mir gut. Ich arbeite weiter als Krankenschwester in München und bringe unseren Verein voran, so gut es geht. Als Corona kam, war das zunächst ein Schock für uns. Wir wollten auf die Philippinen fliegen und ein Community-Center aufbauen. Dort wollen wir vor allem Frauen und Kinder unterstützen.

Dann gab es keine Flüge mehr ...

Und es wurde ein Einreiseverbot verhängt. Zwei unserer Mitarbeiter waren aber kurz zuvor noch hingeflogen. Sie saßen dann nach wenigen Tagen auf der kleinen Insel Cebu fest und durften ihre Unterkunft nicht mehr verlassen. Das machte uns allen Angst, einer der beiden war noch nie auf den Philippinen gewesen. Ich fühlte mich verantwortlich, denn ich hatte ja alles organisiert. Aber Not macht erfinderisch.

Was haben Sie dann gemacht?

Die Geschäfte waren geschlossen, die Menschen konnten keine Lebensmittel mehr kaufen. Wegen der Ausgangssperre hatten sie auch keine Einnahmen mehr. Die meisten leben nur von dem, was sie an einen Tag verdienen, als Straßenhändler, Schrottsammler oder mit kleinen Dienstleistungen. Arbeitslosengeld, Krankenversicherung, all das gibt es in dem Land ja nicht. Wir haben dann einen Spendenaufruf im Internet über betterplace.org gestartet, da kam schnell etwas Geld zusammen, das wir unseren Helfern schickten. Sie konnten dann in dem einzigen großen Supermarkt, der noch geöffnet hatte, mit Karte einkaufen. Zusammen mit einer Hilfsorganisatorin vor Ort packten sie Essenspakete und verteilten sie im Slum.

Das war ganz schön mutig.

Allerdings. Es waren alle Gefühle dabei: Angst, Verzweiflung, Hoffnung, Stolz, auch bei uns. Durch Zufall lernten sie dann Einheimische kennen, die auch noch Desinfektionsmittel und Masken organisieren konnten. Weil meine Freundin selbst eine Immunschwäche hat, durften die beiden dann nach vier Wochen mit einem Flugzeug der Bundesregierung nach Deutschland zurück fliegen.

Wie geht es jetzt weiter?

Wir haben ja unsere festen Ansprechpartner in Manila, der Hauptstadt. Mit denen sind wir ständig über Facebook in Kontakt. Sie schicken uns Videos. Die Situation ist wirklich schlimm. In Deutschland durften wir uns ja die ganze Zeit bewegen. Dort wird jeder hart bestraft, der auf der Straße erwischt wird. Viele wurden schon verhaftet. Aber was sollen sie machen? Wenn sie nicht rausgehen, verhungern sie. Im Slum zu leben, ist schon schlimm genug - ich habe es selbst erlebt. Aber im Lockdown? Unvorstellbar. Und 1,50 Meter Abstand halten - unmöglich. Gerade wurde der Lockdown erneuert und verkündet, dass die Schulen wohl bis Ende des Jahres geschlossen bleiben. Deshalb schicken wir jetzt Masken, Papier und Lernmaterialien für die Kinder.

Wie machen Sie das?

Eine meiner Tanten ist Lehrerin an einer Public School. Gemeinsam mit ihr entwerfen wir Lernmappen für die Kinder. Die Lehrer versuchen dann, sie wenigstens ein bisschen zu Hause zu unterstützen und zu motivieren, damit sie nicht völlig den Anschluss verlieren. Ich hoffe sehr, dass ich Ende des Jahres selbst hinfliegen kann. Aber das steht noch in den Sternen. Dann würde ich auch endlich meinen lange verlorenen Bruder wiedersehen.

Warum war er verloren?

Als damals meine Eltern starben, waren wir Kinder noch klein und völlig uns selbst überlassen. Niemand konnte uns helfen. Die Gewalt und Ausbeutung in den Slums ist groß, da rutschten meine Brüder ins Drogenmilieu ab. Viele Kinder schnüffeln Klebstoff, um den Hunger zu unterdrücken. Erst seit ich "Matulong-hilfreich" gegründet und wieder Kontakt zu den Menschen im Slum habe, fand ich meine Familie wieder. Meine Tante, meine Schwester, und dann meinen Bruder. Er hat jetzt selbst Kinder, einen kleinen Shop und druckt Lernmappen für die Schulkinder. Wir unterstützen ihn. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich darüber bin.

© SZ vom 09.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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