Verbrechen:Alte Spuren neu geprüft

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Vor Jahrzehnten bedachten selbst die Täter entlarvende DNS-Spuren nicht. Zum Glück. Denn so wird die Polizei bei rätselhaften Fällen Jahre später noch fündig.

Susi Wimmer

Eine gehäkelte lila Unterhose, ein kurzärmeliger Pullover, blaukariertes Dirndlkleid, Feinstrumpfhose. Und ein Messer. Alles separat verpackt in durchsichtige Plastiktütchen. Die Erinnerung an ein Menschenleben passt in eine braune Pappschachtel. Genauer gesagt: nicht an das Leben, sondern an den Tod.

Gut 30 Jahre ist es her, dass die Münchnerin im Dirndl durch die Straße schlenderte, in der sie ihrem Mörder begegnen sollte. Er brachte sie mit mehreren Messerstichen um, bis heute blieb das Verbrechen ungeklärt. Der Täter kann sich trotzdem nicht in Sicherheit wiegen: Denn die Münchner Mordkommission holt in regelmäßigen Abständen die etwa 70 Pappschachteln mit Asservaten aus den Regalen und rollt die Fälle wieder auf - dank der Fortschritte in der DNS- und Fingerspurentechnik recht erfolgreich.

Richard Thiess ist Erster Kriminalhauptkommissar, Leiter der Mordkommission V im Münchner Präsidium, und einer, der nicht aufgibt. Etwa fünf Jahre ist es her, dass der Ermittler in alten Fällen gestöbert und dabei ein Konzept entwickelt hat: Neben den aktuellen Tötungsdelikten recherchieren die Fahnder der fünf Münchner Mordkommissionen auch Altfälle neu, in regelmäßigen Abständen, thematisch gegliedert.

Der Fall Hermann

Auf diese Weise wurde 2005 eine DNS-Spur an einer Schraube aus dem Entführungsfall Ursula Hermann gesichert. Das Mädchen war 1981 in einer Holzkiste eingesperrt worden und darin erstickt. Es ist diese genetische Spur, die sich auch im Appartement der 2006 ermordeten Parkhaus Besitzerin Charlotte Böhringer findet und der Polizei so große Rätsel aufgibt - denn der des Mordes angeklagte Neffe ist zu jung, um auch als Täter im Fall Böhringer infrage zu kommen.

So wie Mord niemals verjährt, werden Fälle wie der von Ursula Hermann nie geschlossen. So landen beispielsweise bei einem Ermittler die Morde an Prostituierten, damit er etwaige Parallelen erkennen kann. Beim "Checken der Asservate", wie Thiess sagt, könne man "ganz erstaunliche Treffer" landen.

Es war eine warme Augustnacht, in der die irische Studentin Sinead O. von einer Feier auf dem Weg zum Campingplatz in Thalkirchen war. Am westlichen Ufer, etwa 80 Meter von der Thalkirchner Brücke entfernt, stellte sich ihr der damals 26-jährige Fräser Rene L. in den Weg. Er bedrohte die 20-Jährige mit einem Messer, zog sie hinter einen Bauzaun und vergewaltigte sie. Dann stach er mit einem Messer auf Brust und Rücken seines Opfers ein und ließ es schwer verletzt liegen. Mit letzter Kraft versuchte Sinead O., sich von der Böschung weg zu ziehen und rutschte dabei in die Isar. Stundenlang hing sie, an einem Ast geklammert, im Wasser, bis sie schließlich im Morgengrauen ein Bauarbeiter fand. Einen Tag später starb die junge Frau im Krankenhaus.

Rene L., der für eine Zeitarbeitsfirma in München gearbeitet hatte, verschwand wieder aus der Stadt. Die Polizei trat trotz intensiver Ermittlungen auf der Stelle. Irgendwann kam der Fall dann doch zu den Akten - und Sineads Bekleidung mit den anderen Asservaten in eine Pappschachtel.

2004 zog ein Ermittler von Thiess' Truppe den Karton erneut aus dem Regal und gab die Asservate an den Erkennungsdienst weiter. Auch dort gibt es eine Arbeitsgemeinschaft Altfälle. Und die machten das schier Unmögliche möglich: Die Ermittler fanden im Gummiband der Unterwäsche von Sinead O. eine DNS-Spur vom Sperma des Mörders.

"Und das, obwohl die Unterwäsche stundenlang vom Isarwasser durchspült worden und danach jahrelang im Karton in der Asservatenkammer gelagert war", sagt Thiess. Die Spur wanderte weiter zur polizeilichen Arbeitsgemeinschaft "Altfälle DNA" - und siehe da, der Computer kannte die DNS (die Polizei gebraucht die englische Abkürzung DNA). Der Mörder hatte sich in den Jahren nach der Tat wegen anderer Vergehen wie Körperverletzung einem obligatorischen DNS-Test unterziehen müssen und war im Polizeicomputer gespeichert.

Überraschter Täter

Am 18. November 2004 steht das Spezialeinsatzkommando der Polizei in Bremerhaven vor der Haustüre von Rene L. Der überraschte Täter leistet keinerlei Widerstand. Thiess und seine Kollegen begleiten den Mann auf dem Einzeltransport nach München. "Es war ein Dreckswetter, Regen, dazu die karge Marschlandöde", beschreibt Thiess die Stimmung. Dann plötzlich, nach wenigen Minuten Fahrt, der leise Satz: "Ja, ich war's." Der Fahrer tritt auf die Bremse, steuert sofort den nächsten Parkplatz an. Dort legt Rene L. ein umfassendes Geständnis ab.

Wochen später kommen die Eltern von Sinead O. nach München. 13 Jahre nach der Ermordung ihrer Tochter kann Thiess ihnen sagen, dass der Täter gefasst ist. "So ein ungeklärtes Verbrechen wird Teil des Menschen", sagt der Ermittler. Man versuche zu verdrängen, doch der Druck bleibe über all die Jahre. Sineads Eltern waren sichtlich erleichtert, befreit, "sie konnten dann endlich damit beginnen, den Tod ihrer Tochter zu verarbeiten."

Neun von 86 Altfällen haben die Münchner Mordermittler in den letzten Jahren nachträglich geklärt. Dabei kommen den Polizisten neue Techniken zugute: Dass beispielsweise schon ein Fragment eines Fingerabdruckes, eine Mindestzahl an Minuzien (Endungen und Verzweigungen der Fingerlinien), ausreicht, um die Spur zuordnen zu können. Oder, dass sich aus Partikeln im Makrobereich komplette DNS-Bilder rekonstruieren lassen. "Daran hat vor 25 Jahren kein Mensch gedacht", meint Thiess.

Und eben auch kein Täter: Einer warf am Tatort eine Zigarettenkippe weg. Schon damals jedoch sammelte und hortete die Polizei alle Spuren akribisch. Der Zigarettenstummel wurde freilich nur deshalb eingetütet, um einem möglichen Täter später etwa dieselbe Zigarettenmarke nachweisen zu können. Dass auf der Kippe Speichelreste und damit DNS-Material gespeichert werden, war dem Mörder der "Rotwein-Sophie" nicht klar.

"Die Rotwein-Sophie"

Die Seniorin, Mitte 80, sprach gerne dem Alkohol zu und nahm den jungen Mann mit nach Hause. Dort vergewaltigte er die alte Frau und erdrosselte sie. Die Kippe blieb zurück. Jahre später stand die Polizei vor seiner Tür: "Ich weiß nicht, was Sie meinen", habe er zu den Ermittler anfangs gesagt. "Er hat geschluckt, flach geatmet und plötzlich hat er's geschnallt", sagt Thiess.

Schuppen, Haare, Haut, Blut, Sperma: Schon aus winzigen Teilchen können die Experten im Labor DNS extrahieren. Früher wurden beispielsweise die Fingernägel der Opfer archiviert. "Wenn das Opfer vielleicht den Täter gekratzt hatte, wollte man die Wunden am Täter mit den Nägeln vergleichen", erklärt Thiess. Öffnet man heute die Tütchen, so findet man an der Unterseite der abgeschnittenen Nägel vielleicht einen Hautfetzen des Mörders. Und plötzlich geht der Fall auf.

Aber aller neuen technischen Errungenschaften zum Trotz: Das gute alte Handwerk des Ermittlers bleibt. Eine einzige DNS-Spur klärt noch keinen Mord - siehe den Fall Böhringer. Wie sie dorthin kam, von wem sie stammt, das kann tausend Gründe haben. Die Spur muss im richtigen Kontext stehen. Und so werden auch bei den Altfällen nach Jahren die Zeugen nochmals befragt und die Fahnder suchen nach neuen Ermittlungsansätzen. Vielleicht hat ja ein Zeuge aus persönlichen Gründen damals geschwiegen, eine Beziehung ist in die Brüche gegangen, "man weiß ja nie", sagt Thiess.

Das Stöbern in den Altfällen ist neben dem aktuellen Tagesgeschehen für den Chef der Mordkommission fünf zur Passion geworden. Wenn er den Angehörigen eines Mordopfers nach Jahren oder Jahrzehnten sagen kann, "wir haben ihn", dann, sagt Thiess, empfinde er nach getaner Arbeit so etwas wie "stille Freude".

© SZ vom 19./20.05.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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