Und jetzt?:"Einsamkeit ist neben der Armut im Alter das Schlimmste"

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Für Sozialexpertin Anne Hübner muss sich eine Gesellschaft daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht

Interview von Thomas Anlauf, München

Anne Hübner gilt als Expertin für soziale Fragen im Münchner Stadtrat. Die SPD-Politikerin arbeitete neun Jahre lang im Sozialreferat, seit 2013 ist sie Fachreferentin im Bereich Altenpflege bei der Arbeiterwohlfahrt in München.

SZ: Frau Hübner, eine alleinstehende, 75-jährige, körperbehinderte Münchnerin muss mit 180 Euro im Monat zum Leben auskommen. Was sagen Sie dazu?

Anne Hübner: Eigentlich darf es so etwas nicht geben. Neben der Warmmiete sollten mindestens 420 Euro für den persönlichen Bedarf bleiben. Und das ist schon zu wenig. München zahlt als einzige Großstadt in Deutschland einen erhöhten Regelsatz von 21 Euro zusätzlich. Aber es gibt eben leider auch viele Menschen, die den Weg in die Sozialbürgerhäuser nicht finden. Da gibt es oft Ängste und Scham davor, finanziell unterstützt werden zu müssen. Aber jeder hat diesen Anspruch auf Unterstützung und sollte ihn wahrnehmen.

Wie viel Geld braucht man Ihrer Meinung nach mindestens zum Leben in einer so teuren Stadt wie München?

Ich würde sagen, dass jeder, der weniger als 1200 Euro monatlich zur Verfügung hat, armutsgefährdet ist. Um so viel Rente zu bekommen, muss man aber über 40 Jahre lang einen durchschnittlich bezahlten Beruf in Vollzeit ausgeübt haben.

Mit dieser Definition wären ziemlich viele Rentner von Armut betroffen. Wie erklären Sie es sich, dass im neuen Schuldneratlas für München, der vor wenigen Tagen erschienen ist, plötzlich ein starker Anstieg der Altersarmut zu erkennen ist?

Das ist erst der Anfang. Jedes Jahr steigt die Zahl der von Armut betroffenen Senioren um sechs bis sieben Prozent. Allein im ersten Halbjahr dieses Jahres haben fünfhundert Münchner neu Grundsicherung bekommen. Noch leben viele ältere Menschen in München in Wohnungen mit günstiger Bestandsmiete oder in Wohnungen, in denen es eine Mietpreisbindung gibt. Wenn die ausläuft, steigen die Mietkosten leider oft gewaltig.

Tut denn die Politik überhaupt genug, um Altersarmut möglichst zu verhindern?

Gerade in Berlin scheint mir das leider kaum ein Thema zu sein. Die Armutsbekämpfung hat nicht den Stellenwert, den sie haben sollte. Eine Gesellschaft muss sich aber daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht.

Und was wäre zu tun?

Man könnte zum Beispiel die Grundsicherung reformieren. Menschen, die 900 Euro Rente im Monat haben, haben oft ihr ganzes Leben gearbeitet. Dennoch bleibt ihnen im Rentenalter in München nicht mehr als jemandem, der nie gearbeitet hat. Hier könnte man über einen aufgestockten Regelsatz für die Grundsicherungsbezieher nachdenken, die viele Berufsjahre hinter sich haben. Auch die Wiedereinführung der einmaligen Leistungen wäre wichtig. Es kann doch nicht sein, dass die bedürftigen alten Menschen abhängig sind von Stiftungen oder Spenden.

Die einmaligen Leistungen wurden faktisch unter der Regierung von SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder abgeschafft.

Ja, das wird zwar immer wieder kritisiert, aber bis heute hat sich da nichts getan. Dabei wäre es auch finanziell kein gewaltiger Kraftakt, diese wieder einzuführen. Für die älteren Menschen wären sie eine enorme Erleichterung.

Die Stadt München bemüht sich über ihre eigentliche Verpflichtung hinaus, bedürftige alte Menschen zu unterstützen.

Ja, nirgendwo gibt es ein so dichtes Netz an Angeboten wie in München. Gerade erst wurden die Alten- und Service-Zentren personell verstärkt. Trotzdem denke ich, dass wir noch mehr tun müssen. Gerade die Sozialbürgerhäuser, die Sozialhilfe auszahlen, müssen für die Senioren leicht zugänglich sein. Wer 70 oder 80 Jahre alt und arm ist, wird es leider auch bleiben. Viele Ältere empfinden deshalb ihre Situation auch als so perspektivlos. Es ist unsere Verpflichtung, dass künftig mehr Menschen, die Grundsicherung benötigen, diese auch bekommen.

Dabei wollen viele Rentner durchaus arbeiten. Aber der Gesetzgeber macht es insbesondere den Grundsicherungsbeziehern nicht gerade leicht.

Man sollte den Menschen die Möglichkeit geben, etwas für sich selbst zu tun. Diejenigen, die im Alter arbeiten wollen und können, sollten auch die Möglichkeit haben, etwas Geld dazu zu verdienen.

Ein Grund für Altersarmut in München sind die hohen Mietkosten. Was kann die Stadt da tun?

Wir brauchen für ältere Menschen viel mehr bezahlbaren und altersgerechten Wohnraum. Hier sind auch Bund und Freistaat gefordert. Aber natürlich muss auch die Stadt mehr Angebote machen. Die älteren Menschen brauchen oftmals ja gar nicht so viel Platz. Bei neuen Wohnprojekten muss es auch nicht unbedingt ein Mehrgenerationenhaus sein. Wichtig ist, dass die Wohnungen barrierefrei und bezahlbar sind. Und dass es einen Platz für Gemeinschaft und Begegnung gibt. Denn Einsamkeit ist neben der Armut im Alter das Schlimmste.

© SZ vom 05.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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