Überraschende Niederlage:Stadt verliert im Kita-Streit

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Der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz sei nicht erfüllt - diese Sicht vertreten bayerische Richter in einem Musterverfahren, das Folgen haben dürfte

Von Heiner Effern, Ansbach/München

München muss wohl erstmals einer Familie Geld zahlen, weil die Stadt den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz nicht erfüllt hat. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) ließ in einem Musterverfahren am Donnerstag kaum Zweifel daran, dass die klagenden Eltern vom Bildungsreferat trotz Nachfrage kein annehmbares Angebot für eine Betreuung erhalten hätten. Da "der Jugendhilfeträger nicht in die Puschen gekommen ist" und sich die Familie selbst einen teureren, privaten Platz suchen musste, sei die Stadt verpflichtet, die Mehrkosten im Vergleich zu den städtischen Gebühren zu ersetzen, erklärte der Vorsitzende Richter Karl-Georg Mayer. Das Urteil wird in den kommenden Tagen erwartet, doch wird es wohl keine Rechtskraft erlangen. Vertreter der Stadt kündigten bereits an, Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einlegen zu wollen.

Das Urteil des VGH wird mit großer Spannung erwartet, weil es Präzedenzwirkung haben könnte. In Leipzig werden nun wohl Fragen aufgeworfen und höchstrichterlich geklärt, die nach bisherigen Urteilen der Verwaltungsgerichte geklärt zu sein schienen. Sind 30 Minuten einfach von Zuhause zum Betreuungsplatz zumutbar? Welche Angebote muss eine Kommune Eltern machen, damit der Rechtsanspruch als erfüllt gilt? Der VGH bewertete beide Punkt konträr zur bisherigen Rechtsprechung. Bisher galt, dass ein Platz bei Tageseltern gleichwertig zu einer Krippe zu sehen ist. Die Richter in Ansbach forderten eine Wahlfreiheit der Eltern. Und 30 Minuten Fahrt zur Krippe oder Tagesmutter seien eben nicht zumutbar. Man müsse sich auch einmal in eine Mutter hineinversetzen, die morgens eine Stunde hin und zurück brauche, um ihr Kind in die Kita zu bringen und abends eine Stunde, um es wieder abzuholen, sagt der Richter Mayer. "Da muss man sich emotional einfühlen."

Im konkreten Fall suchte eine Familie, die von Köln nach München gezogen war, für ihren Sohn zum 1. April 2014 einen Krippenplatz. Bereits im September 2013 hätten die Eltern bei der Stadt deswegen angefragt. "Da hätten sie bereits einen Platz reservieren müssen", kritisierte der Richter die Stadt. "Am 1. April hätte der stehen müssen." Die klagende Familie buchte schließlich einen Platz in einer privaten Krippe für 1380 Euro im Monat. Deren Angebot liege zwar im Luxus-Segment, dafür könne die Familie aber nichts - sie habe ja keine Alternative gehabt. Der Richter nannte es "ein sogenanntes Friss-oder-stirb-Angebot". Das Kind befand sich bis Ende August 2014 in der teuren Kita, für den 1. Juli bot die Stadt einen Platz in einer Übergangsgruppe an, den die Familie aber nicht annahm. Für die Monate von April bis Juni soll die Stadt aus Sicht des Senates zahlen. Und zwar 1000 Euro pro Monat. Das entspricht der Differenz zu einem Acht-Stunden-Tag in einer städtischen Krippe.

Das vom Senat in Ansbach erwartete Urteil könnte die bisherige Praxis bei der Vergabe auf den Kopf stellen, sagte Bildungsreferentin Beatrix Zurek. "Wir sehen das mit großer Sorge." In ihrem Haus kümmern sich die Mitarbeiter darum, dass jede Familie einen Betreuungsplatz erhält und der gesetzlich garantierte Anspruch erfüllt wird. Das sei in diesem Fall geschehen. Die zuständige Abteilungsleiterin Susanne Herrmann versteht die Haltung des Gerichts auch in der Beurteilung der Fakten nicht. Die Familie habe tatsächlich wegen einer Betreuung angefragt und am 29. Januar 2014 sechs Angebote in der Tagespflege erhalten. Diese habe sie alle abgelehnt, hauptsächlich wegen zu kurzer Öffnungszeiten. Erst am 21. Mai 2014 hätten die Eltern mitgeteilt, dass sie einen Wohnsitz in München hätten. Der Vertrag mit der privaten Krippe lief da schon fast zwei Monate.

Die Bilanz der Stadt sei seit der Einführung des Rechtsanspruchs auf eine Betreuung von Kindern unter drei Jahren am 1. August 2013 makellos, sagt Herrmann. Bis Mitte Juli sei die Stadt 117 Mal wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen den Rechtsanspruch verklagt worden, verloren hätte sie keinen einzigen Prozess. Darunter waren auch mehrere, die vom gleichen Senat in Ansbach für die Stadt positiv entschieden worden seien. Die nun erfolgte "Veränderung der bisherigen Rechtsprechung" komme völlig überraschend.

Das könnte enorme Folgen haben, befürchtet die Stadt. Das Urteil stelle "eine Einladung an Eltern dar, zu klagen", sagte Abteilungsleiterin Herrmann. Das könnte die Stadt bis zu 18 Millionen Euro pro Jahr kosten. Die Familien müssten nur die Angebote der Stadt ablehnen, sich einen teuren Privatplatz suchen und könnten sich die Differenz aus öffentlichen Mitteln erstatten lassen. Herrmann findet das Urteil mehr als bedenklich, weil es teure Krippen begünstige - und Eltern völlig unabhängig von ihrem Einkommen nochmals deutlich bezuschusse.

© SZ vom 22.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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