Tutzinger Treffen der Filmemacher:Die Kunst des Abschieds

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"Wirklichkeit ist am wenigsten gewiss von allem, was wir wissen": Edgar Reitz und Hans W. Geißendörfer beim Tutzinger Treffen der Filmemacher.

Hans Schifferle

Er ist eine beeindruckende Erscheinung, der Filmemacher Edgar Reitz, Unterzeichner des Oberhausener Manifests und Schöpfer der legendären "Heimat"-Trilogie. Seine 76 Jahre sieht man ihm nicht an. Er tritt bescheiden auf, aber da ist auch die Entschlossenheit eines obsessiven Künstlers zu spüren.

Hans W. Geißendörfer (Foto: Foto: dpa)

Reitz hat beim Treffen der Filmemacher in der evangelischen Akademie Tutzing einen Vortrag gehalten zum Thema "Wirklichkeit und Film". Sein Referat glich einem gewachsenen Ineinander von philosophischen Gedanken und persönlichen Beobachtungen zum Kino und zum eigenen Schaffen. Kurz hatte man das Gefühl, in eine Diskussionsrunde der frühen sechziger Jahre zurückversetzt zu sein. In dieser zugleich vertrauten wie fremdartigen Stimmung erläuterte Reitz seine Gedanken über Raum und Zeit im Kino.

Das Dazwischen und das, was im Dunkeln bleibt auf der Leinwand, sind seiner Meinung nach die wichtigsten filmischen Räume: "Regie führen heißt, das Off zu durchdringen." Jede Filmeinstellung ist für ihn ein Unikat, bei jeder Vorführung behauptet sie, im Präsens zu sein, obwohl sie doch schon längst Vergangenheit ist. Kino ist also für Reitz die Kunst des andauernden Abschieds.

Der gegenwärtigen Bilderinflation mit zweifelhaften Wirklichkeitsvorstellungen stellt er eine Ästhetik der Askese gegenüber: die Basis eines jeden Filmbildes muss eine angewandte Philosophie sein. Den unzähligen Darstellungen von Realität in den heutigen Medien begegnet er mit tiefer Skepsis. Der letzte Satz seines Vortrags lautete: "Wirklichkeit ist am wenigsten gewiss von allem, was wir wissen."

Reitz' Ausführungen überzeugten jenseits der Erkenntnisse vor allem durch Poesie und Rebellion. Die Poesie liegt nicht nur in den oft grandiosen Formulierungen begründet, sondern auch in der Sprechweise von Reitz, in der immer ein Hauch Ungewissheit liegt. Die sanfte Rebellion zeigt sich eigentlich in jedem seiner Sätze: Da ist einer, der hat seine ganz eigenen Gedanken zu Kino, der könnte sie noch jederzeit in die Tat umsetzen, wenn ihm die Produktionsmittel zur Verfügung stünden. Ein gewisses Maß an Verbitterung schwingt hier mit über die Produzenten und Redakteure in Deutschland. Auf die Frage aus dem Auditorium, um was es denn in einer vierten "Heimat" gehen würde, könnte er sie realisieren, antwortet Reitz sogleich: Er würde sie am 11. September beginnen lassen, dem Tag, "an dem die Wirklichkeit unsichtbar wurde".

Reitz stellte seine Gedanken im besonderen Ambiente der evangelischen Akademie dar. Direkt am Starnberger See in einem Park gelegen, muss man unweigerlich an eine Wellness-Anlage für Geist und Kultur denken. Im Rondell, in dem die Vorträge stattfinden, sitzt man in weiten Kreisen, die die Raumstruktur der antiken griechischen Demokratie simulieren. Das Publikum besteht zumeist aus Honoratioren und Akademikern aus München und dem Umland.

Das ist ein hochgebildetes und filmkritisches Publikum, das aber auch schnell überzeugt werden kann und dann in eine Art intellektuelle Feelgood-Stimmung gerät. Der Vortrag von Reitz wurde gut aufgenommen, aber mit seinem hohen Anspruch und seinen leisen Selbstzweifeln wirkte er doch auch verunsichernd. Zur Sicherheit bestellten sich einige Besucher sogleich eine Kopie des Referats.

Im Anschluss an Reitz kam dann ein anderer Veteran des Neuen Deutschen Films zu Wort: Hans W. Geißendörfer, Schöpfer der "Lindenstraße", aber auch einiger bemerkenswerter Kinofilme wie "Carlos" oder "Sternsteinhof". "Heimat, Zeitgeist, Alltag" war das Gespräch überschrieben, das Volker Panzer vom ZDF-Nachtstudio mit Geißendörfer führte, einem Kino-Schlachtross mit Käppi und graumeliertem Schnauzer. Dass Reitz und Geißendörfer hintereinander sprachen, brachte plötzlich die "Heimat"-Trilogie und die "Lindenstraße" in eine bemerkenswerte Verbindung; leider wurde auf Parallelen dieser großen deutschen Chroniken kaum eingegangen.

Geißendörfer erzählte nun pragmatisch vom Kino- und Fernsehmachen. Zuerst gab er einen allzu knappen Abriss zur Historie des Heimatfilms, den er für das einzige genuin deutsche Genre hält. In den sechziger und siebziger Jahren hätten er selbst und Volker Schlöndorff den Heimatfilm für sozialkritische Themen geöffnet, jetzt würde Markus H. Rosenmüller das Genre zu einer gewissen Perfektion führen. Immerhin gesteht Geißendörfer dem Heimatfilm der fünfziger Jahre auch dunkle, kritische Momente zu.

Ende des Fernsehens

Das ist nämlich ein großer Irrtum in vielen Diskussionen zum Heimatfilm: der Konsens darüber, dass in den Fünfzigern nur heile Welt dargestellt wurde. Man schaue sich als Gegenbeispiele nur den schwarzen "Rosen blühen auf dem Heidegrab" oder den sinnlich-verstörenden Film "Barbara - wild wie das Meer" an.

Am Ende des Gesprächs, nach einigen Einlassungen über die "Lindenstraße", jenen Mix aus High Camp und dem Ideal der Aufklärung, dem prodesse und delectare, in dem sich Unterhaltung und kritische Beobachtungen verknüpfen, kam Geißendörfer auf den Zeitgeist zu sprechen, jenes unbekannte Wesen, das auch die "Lindenstraße" einzufangen versucht.

Der Zeitgeist scheint aber jetzt umgekehrt die "Lindenstraße" zu schnappen: Geißendörfer erläuterte, unter welchem Konkurrenzdruck auch eine Institution wie diese Serie durch andere Medien wie das Internet steht. Am Ende gab es noch ein schönes Beispiel von der Gleichzeitigkeit des Unzeitgleichen. Während Geißendörfer von den ersten tiefen Veränderungen des Fernsehens sprach, kam aus dem Auditorium eine Bemerkung, die eine Seifenoper wie die "Lindenstraße" als intellektuelle Zeitverschwendung abtat. Während also Geißendörfer vorsichtig das Ende des Fernsehens andeutete, übte der Zuhörer TV-Kritik wie vor 35 Jahren. Wie hatte Edgar Reitz zuvor so schön gesagt: "Zeit = Leben = Unsicherheit."

© SZ vom 13.01.2009/sonn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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