Tollwood-Auftakt:Das Ende der Birkenstockiade

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Es ist alles ein bisschen anders in diesem Jahr im Olympiapark. Bisher ein Dauerregen, kein Orkan und kaum noch Vertreter mit Korksohlen an den Füßen. Wenn hier bald das P1 eine Dependance aufmacht, sollte sich keiner wundern.

Christian Mayer

(SZ vom 20.6.2003) — Sieht gefährlich aus, was die da oben machen. Ein Raunen geht durch die Menge, als die sieben australischen Künstler der Gruppe "Strange Fruit" biegsame Stangen besteigen, dabei hin- und herschwanken und sich sichtlich um Balance bemühen.

Eine Artistin muss schnell noch ihre Halterung austauschen, bevor es losgeht. Nach einer kurzen Verwandlungszeremonie verschwinden sie hinter einem Kokon aus Stoff. Und dann hocken sie plötzlich in fünf Meter Höhe in der Luft, lebende Ballons.

Phantastische Gestalten

"Wie Mohnblumen im Wind", staunt ein Besucher, der wie die anderen seinen Kopf in den Nachthimmel recken muss, um die Show zu verfolgen. Im Rhythmus der Sphärenmusik drehen sich die Ballons, aus denen erst Seifenblasen steigen, dann die Hände und Köpfe der Artisten auftauchen — phantastische Gestalten, die langsam aus ihrer Trance erwachen, sich gegenseitig anziehen und abstoßen.

Ein suggestives, manchmal etwas langatmiges Verführungspiel, bei dem man als Zuschauer schnell einen steifen Nacken bekommt; der Kameramann eines Lokalsenders reißt einen Teil der Dekoration um beim Versuch, die märchenhafte Performance zu filmen.

Macht nichts — wenn hier im Olympiapark alles nur nach Plan laufen würde, dann hätte das Tollwood-Festival seinen Charme verloren. Ein wenig kreatives Chaos muss sein. Immerhin wird das Sommerfest am Eröffnungsabend nicht von Regenschauern oder gar Orkanen heimgesucht, was ja beinahe schon zur Tradition des Multikulti-Spektakels gehört. Und so kann man ausnahmsweise trockenen Fußes an den Fressbuden entlangschlendern: den Geruch von indischem Kichererbsen-Curry in der Nase, von Kebab, Pizza, hausgemachten Aroma-Therapiekerzen und afrikanischen Fleischgerichten.

Vorbei am Stand von "Grunz-Tom", der kopulierende Schweinchen aus Ton feilbietet, vorbei an Ethno-Kitsch, Leinengewändern, Schwarzwurzelöl, Eso-Kerzen, Ginkgo-Samen und Bärlauchpaste.

Scampis und Wasserpfeife

Alles wie gehabt. Und doch gibt es Neues auf dem Festival, das sich inzwischen zu einer weitgehend politikfreien Partyzone gewandelt hat. Allerdings zu einem Fest mit einem stolzen Musik- und Showangebot, das immer professioneller wird und auf altbewährte Namen von Gianna Nannini über die Beach Boys bis hin zu Toto oder Saga setzt.

Wer von all dem genug hat, kann sich in den Strandkörben vor der Karibik-Bar, an der Scampi-Theke oder in den Lounge-Sesseln des Festivalclubs ausruhen, wo dieses Jahr das Motto Safari ausgelebt wird. In der "Karawanserei" darf man im übrigen weniger orientalische Schleiertänze oder politisch korrekte Teestunden erwarten als vielmehr eine ziemlich hippe Cocktail-Gesellschaft, die lieber Marlboro als Wasserpfeife raucht.

Ganz schön trendy ist sie geworden, die einstige Birkenstockiade auf dem ehemaligen Oberwiesenfeld; und wenn hier bald das P1 eine Dependance aufmacht, sollte sich keiner wundern.

Am ruhigsten ist es noch im "LebensArt"-Zelt, das eigentlich den Blick öffnen soll für die Anliegen von Behinderten, Umweltgruppen oder Dritte-Welt-Aktivisten. Ein engagiertes Zelt, das in seiner Ernsthaftigkeit leider auf geringes Interesse stößt. Nur ein paar aufrechte Besucher lauschen den Jazz-Improvisationen des Pianisten und betrachten die Stellwände der Initiativen.

Ansteigende Spaßkurve

Dafür steigt am anderen Ende des Geländes, im Andechser Zelt, die Spaßkurve. Dort muss der junge Elvis-Epigone Lorenz Jäger gerade seine zehnte Zugabe singen: Erst "In the Ghetto", "Devil in Disguise", und jetzt, als seiner Band die Presley-Nummern ausgehen, gibt es noch "Bridge over Troubled Water" — nicht ganz stilecht und definitiv kein klassischer Elvis, aber was soll's.

20-jährige Gymnasiastinnen haben längst ihre Gin Tonics stehen lassen und die Tanzfläche gestürmt, auf der einige Festival-Veteranen ihre Wampen schwingen. Alt und Jung, vereint im Oldie-Fieber.

Noch lauter ist der Jubel nur beim Rosenstolz-Konzert in der Musik-Arena. Allerdings muss man zum engeren Zirkel der beiden Sänger Anna und Peter gehören, um den gefühligen Deutsch-Pop so richtig zu genießen. Offensichtlich können aber ein paar Tausend Münchner Fans das gesamte Repertoire der Berliner auswendig: Im Grunde müssen sich die Musiker auf der Bühne also gar nicht mehr groß abstrampeln; es reicht aus, die Melodie kurz anzuspielen, dann singt das Zelt alleine.

Zum Beispiel ein Lied, das davon handelt, warum Sex im Hotel am schönsten ist. Rosenstolz passt irgendwie ganz gut zu Tollwood 2003 — auch dass die Bandmitglieder bei ihrer aktuellen Tournee T-Shirts mit dem Songtitel "Was kann ich für Eure Welt" tragen.

Wie dröhnt es über das Gelände? "Vergiss die Welt und mach' die Augen zu!" Das wäre schade, denn dafür gibt es hier viel zu viel zu sehen, zu hören, zu riechen und zu schmecken.

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