Ganz Deutschland kann inzwischen den Sozialstadtplan von Berlin herunterbeten - Neukölln knallhart, "Kreuzkölln" neuerdings angesagt, Prenzlauer Berg durchgentrifiziert, Kreuzberg umkämpft, der Westen abgehängt -, aber wer kümmert sich eigentlich um München? "Weniger bekannt ist hingegen die Tatsache, dass, nach Anteilen gemessen, in München mehr Ausländer leben als in jeder anderen deutschen Stadt. Über sechsunddreißig Prozent der Münchner haben einen Migrationshintergrund. Im Westend, dem Viertel, das an die Theresienwiese angrenzt, sind es knapp fünfzig Prozent."
So führt es ein neuer Münchner Polizeipräsident namens März aus, den Georg M. Oswald in seinem Thriller "Unter Feinden" die erste Bewährungsprobe bestehen lässt. Eigentlich besteht sie in der alljährlich mit polizeilichen Großaufgeboten zu begleitenden Münchner Sicherheitskonferenz, diesmal verschärft durch Warnungen vor einem spektakulären Terroranschlag und der Verhaftung eines undurchsichtigen Orientalen, der seine Identität gewechselt zu haben scheint: vom Frauen verprügelnden bärtigen Fundamentalisten zum smarten glattrasierten Geschäftsmann.
Doch zu diesem geläufigen Szenario lässt Oswald etwas treten, was man sich für München kaum vorstellen mag: einen Banlieue-Aufstand nach Pariser oder Londoner Muster, mit brennenden Häusern, geplünderten Geschäften und nackter Bürgerkriegsgewalt zwischen jugendlichen Migranten und Polizei. Wer "Unter Feinden" gelesen hat, wird den Glauben, so etwas sei in München vollkommen ausgeschlossen, nicht mehr teilen. Denn Oswald, der erfahrene Anwalt für Arbeits- und Sozialrecht, ist auch ein politischer Autor, dessen Romane randvoll mit gesellschaftlicher Wirklichkeit sind. Warum sollte nicht auch der Münchner Polizei ein so spektakulärer Missgriff in der Migrationscommunity unterlaufen, dass massenwirksame Wut entstehen könnte?
So inszeniert es "Unter Feinden": Zwei Polizisten überfahren einen jungen Türken, der daraufhin ins Koma fällt. Der Unfall ereignet sich im Zusammenhang mit verdeckten Ermittlungen zu dem befürchteten Terroranschlag auf die Sicherheitskonferenz, die in jenem Westend geführt werden, über dessen hohen Ausländeranteil der Polizeipräsident dann auch dozieren muss. Und eigentlich ist es gar kein Unfall, sondern die Eskalation einer Auseinandersetzung zwischen einem der verdeckten Ermittler und ein paar Drogendealern, denn der mit Terror befasste Ermittler hat ein mittelschweres Drogenproblem, das ihn zu immer wahnwitzigeren Aktionen verleitet.
Damit sind die Ebenen dieser sorgsam konstruierten Geschichte angedeutet: Sie reichen von der kleinen Drogenkriminalität bis zum internationalen Terrorismus, dazwischen liegen die soziale Hochspannung in Münchner Problembezirken und ein normal maroder Polizeialltag voller Missgunst, immer politisch-medial unter Druck. Das scheint viel für 250 Seiten, und wenn Oswald ein weniger raffinierter Konstrukteur wäre, hätten es leicht hundert mehr werden können. Sein Buch wäre dann zu jener informativen, halbspannenden Dutzendware geworden, die den Krimi-Markt beherrscht. Aber so ist es hier eben nicht.
Ein Roman, den man auch mit Google-Streetview lesen kann
Das verdankt die Erzählung auch ihren beiden Protagonisten, dem Ermittlerpaar Diller und Kessel. Kessel ist der beamtete Junkie, eine Gestalt von monumentaler, aber doch auch liebenswerter Verkommenheit; Diller, sein Urfreund und Ermittlerkollege, steht besser, aber nicht unbedingt sympathisch da: Er hat es zu einer habilitierten Frau (Germanistik, "kritisch"), zwei Kindern und einem Reihenhaus im Stadtteil Solln gebracht.
Diller muss vom Präsidium weit hinausfahren nach Solln, also den ganzen Sozialatlas von München durchqueren - Oswald macht das kürzer als Homer mit seinen Schiffskatalogen. Dillers Sohn hat Schulprobleme, also muss er auf ein katholisches Privatgymnasium, wo neubürgerliche Wohlstandsverwahrlosung den Ton angibt. Kessel hat es dagegen nicht weit, seine vermuffte Absteige liegt in jenem Westend, in dem es zu dem Autounfall und dem kommt, was die Münchner Medien bald nur "den Aufstand" nennen.
Ein Roman also, den man auch mit Google-Streetview lesen kann. Die Spannung besteht nicht in den Verbrechen, sondern im Entkommen: Die beiden ungleichen Polizisten müssten eigentlich gegen sich selber ermitteln, und natürlich wird der Leser dabei unweigerlich auf ihre Seite gezogen. Dass Oswald aber auch die andere Seite zeigt, nicht nur bei den Eltern des angefahrenen Burschen, sondern auch in Gestalt einer eisernen Staatsanwältin mit türkischem Namen, macht die Sache menschlich interessant. Das Attentat in der Sicherheitskonferenz übrigens gelingt so gut wie mühelos.
GEORG M. OSWALD: Unter Feinden. Roman. Piper Verlag, München 2012. 246 Seiten, 18,99 Euro.