Tagelang ausharren:Eisiger Appell

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Seit zwanzig Jahren gehört Annemarie Scherm (links) zu den Listenführern am Marstallplatz. Helga Öffner (rechts) holt sich eine Wartenummer. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Musikfreunde organisieren die Warteliste für Opernfestspieltickets

Von Jutta Czeguhn, München

Eine Gruppe von Leuten friert im fahlen Licht auf dem Marstallplatz um 22 Uhr am Dienstagabend. Sie alle wollen auf die Anstehliste für den Vorverkauf der Opernfestspieltickets an diesem Samstag, möglichst auf die vorderen Plätze. Sie warten auf die Organisatoren. Ein Wagen passiert die Schranke zum Parkplatz und fährt langsam an der Gruppe vorbei zum neuen Probengebäude der Staatsoper. "Das sind sie nicht - oder doch?", raunt eine Frau und stapft dem Auto hinterher. Die anderen folgen, erst zögernd, dann sieht es nach einem verschämten Wettrennen aus.

Etwas außer Atem kommen sie bei dem Wagen an, dem zwei Frauen und ein Mann entstiegen sind. "Entfällt der Ein-Uhr-Appell heute Nacht?", werden die drei Menschen gleich bestürmt. "Die Zeiten stehen auf den Nummern - wie jedes Jahr", gibt ihm die ältere der beiden Frauen zur Antwort. Es ist Annemarie Scherm, 71, sie gehört zu den sogenannten Listenführern. Immer im Januar, in der gefühlt eisigsten Woche des Jahres, pflegen sie auf dem Marstallplatz ein Ritual, das in Zeiten, da man zu Hause wohlig warm in virtuellen Warteräumen beim Online-Ticketkauf sitzen kann, kurios altmodisch, fast ein wenig wahnsinnig anmutet.

"Verein der Ansteher" werden sie fälschlicherweise genannt. "Wir sind kein Verein, nur Opernfreunde", wehrt Arpad Meszaros ab. Erst seit zwei Jahren gehört er zu den etwa acht Freiwilligen, die sich in den Tagen vor dem Festspiel-Erstverkauf im Wagen auf dem Marstallplatz ablösen und zum Appell rufen. Immer um 1 Uhr, 5 Uhr, 7 Uhr, 9 Uhr, 11 Uhr, 14 Uhr, 16 Uhr, 18 und 23 Uhr. Wer seine Position auf der Liste behalten will, muss bei Annemarie Scherm oder den anderen seinen Namen durchs Autofenster nennen. Gibt es ein Häkchen, ist alles gut. Denn am Erstverkaufstag, wenn die Staatsoper gegen 9.15 Uhr in der Eingangshalle-Nord Nummern an die knapp 400 Wartenden ausgibt, wird die private Anstehliste zur offiziellen. Um Chaos zu vermeiden. Als es dieses Listen-Procedere noch nicht gab, haben die Menschen schon mal in der Opern-Halle kampiert, um sicher zu sein, Karten zu bekommen. Rabiat ist es da zugegangen. Ein ums andere Mal musste die Polizei wildgewordene Ansteher zur Raison bringen.

Seit mehr als 20 Jahren nimmt es Annemarie Scherm auf sich, die Anstehliste zu organisieren, getrieben wie alle von einer inbrünstigen Liebe zur Oper. Mit dabei ist auch Tochter Karin, 38, die schon als Kind zusammen mit der Mama um Festspielkarten anstand.

Annemarie Scherm sagt: "Ganz früher, da ging die Schlange hier rundumadum", sagt sie. Ganz schlimm sei das gewesen, so ohne öffentliche Toiletten. Die Sache mit dem stillen Örtchen ist allerdings noch immer etwas heikel. Tee gegen die Kälte im Wagen? Um Gottes Willen, vor allem für die Nachtschicht sei das ein No-Go. Die Stunden auf dem Marstallplatz können lang werden. Arpad Meszaros hat immer ein gutes Buch dabei. Karin Scherm freut sich, wenn ihr Leute Brezn durchs Fenster reichen. Alle Listenführer können skurrile Geschichten erzählen. Von Angetrunkenen, die im Viertelstundenabstand ein Kreuz hinterm Namen fordern, von treuen Schotten, die nüchtern zu den Appellen antreten, von der Wiener Dame, die extra anreist und raunzt: "I hob mei Hotöl immer no ned gsehn, weil I immer nur bei Ihnen da beim Abhaken bin."

Es ist mittlerweile 22 Uhr am Dienstagabend auf dem Marstallplatz, die Leute, inzwischen durchfroren, wollen sich endlich in die Liste eintragen. "Ich bin gespannt, was der Röttgermann für eine Ausrede parat hat, sonst fliegt er von der Liste", knurrt Annemarie Scherm, und alle müssen lachen. Denn das ist sehr unwahrscheinlich. Wolfgang Röttgermann hat ja die Liste. Wie sich herausstellt, wartet der 77-Jährige schon die ganz Zeit in der Opernhalle, die ausnahmsweise noch geöffnet ist.

Auch Röttgermann ist seit Urzeiten dabei. Bis auf ein paar Mauschelei-Vorwürfe in Netzforen gegen die Listenführer herrscht heute fast schon betuliche Harmonie im Vergleich zu früher. Röttgermann verteilt nun Madeleine-Kekse, die seine Tochter immer zum Erstverkauf backt - und dann natürlich die Nummern. Akkurat notiert er sich die Namen. Bis zum letzten Appell um 7 Uhr am Samstag können es weit über 300 werden. Mit Listen kennt sich Pensionär Röttgermann aus, hat er doch früher für die Deutsche Rentenversicherung Statistiken geführt. Allerdings war er auch mal bei Rainer Werner Fassbinders wildem Münchner Action-Theater.

Es wird dunkel in der Opernhalle, ein sanfter Rausschmiss. Ein Teil der Listenführer bereitet sich nun auf die erste Schicht vor. Wenn an diesem Samstag gegen sechs Uhr die Lichter in der Halle wieder angehen, liegt eine harte Woche hinter allen Opernverrückten vom Marstallplatz.

© SZ vom 20.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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