SZ-Serie "In München unterwegs", Folge 6:Philosophie hinterm Steuer

Lesezeit: 8 min

Eine Nachtschicht mit Taxifahrerin Diana Jaber: "Ich bleib' da, wo mich der Fahrgast hinführt."

Von Anna Hoben

Es gibt in Deutschland ungefähr 120 Milliardäre. Die Chance, dass einer von ihnen an diesem Abend in Diana Jabers Taxi steigt, ist zwar höher als die Chance auf einen Sechser im Lotto, aber immer noch ziemlich gering. Von einem Sechser im Lotto hätte die Taxifahrerin natürlich mehr, denn der Milliardär wird am Ende der Fahrt ziemlich genau zehn Prozent Trinkgeld geben, so wie die meisten Fahrgäste. Der Milliardär, ein Freund klassischer Musik, ist nur zu Besuch in München, an diesem Freitagabend hat er sich eine Oper angeschaut, danach war er mit Freunden bei einem guten Italiener in der Maxvorstadt. Jetzt möchte er nach Grünwald gefahren werden. Es ist nach Mitternacht, er ist sehr redselig und vergnügt; so vergnügt, dass er mit dem Ellbogen mehrmals aus Versehen den Knopf betätigt, der sein Fenster runterfahren lässt - so lange, bis die Fahrerin unauffällig die Kindersicherung betätigt.

Dass er ein reicher Mann ist, konnte man ahnen, als er im Taxi von dem Unternehmen berichtete, das er groß gemacht hat. Wie reich er ist, erfährt man erst später, als man seinen Namen googelt. Zunächst hörte man einfach einem Mann zu, der erzählte, wie er sich langsam aus dem Konzern zurückziehe. Wie er gerade lerne, einfach mal nichts zu tun, sich zu entspannen. Wie geizig er allerdings immer noch mit seiner Zeit umgehe, nach Jahrzehnten im Hamsterrad. Da saß der Milliardär und freute sich wie ein kleiner Junge darüber, dass er früher an diesem Abend mit der Tram zur Oper gefahren war, dass er da einfach sitzen und Zeitung lesen konnte. "Das hat mich nur 38 Minuten gekostet." In Grünwald angekommen, kostet die Taxifahrt ihn 28,50 Euro, mit Trinkgeld gibt er 32.

Diana Jaber ist 44 Jahre alt; die Hälfte ihres Lebens fährt sie Taxi, und es sind auch Begegnungen wie die mit dem Milliardär, die ihren Job spannend machen. Während sie Menschen von A nach B bringt, bekommt sie kurze Einblicke in verschiedene Leben, natürlich oft auch ohne zu wissen, wer der Mensch ist, der neben oder hinter ihr sitzt. Außer, wenn es ein Prominenter ist. Einmal fuhr sie den Grünen-Politiker Anton Hofreiter. Sie unterhielten sich über die Besteuerung von Konzernen.

Eigentlich wollte Diana Jaber Dolmetscherin werden, doch die Leute rieten ihr davon ab. Sie schrieb sich für Maschinenbau ein, untypisch für eine Frau, also gut, dachte sie. Ihr Studium finanzierte sie mit Taxifahren. Dann brach sich ihr Chef ein Bein und drückte ihr den Autoschlüssel in die Hand. In München fand gerade die Messe Bauma statt, eine lukrative Zeit für Taxifahrer. Das Studium war Diana Jaber schon lange zu trocken gewesen, und so brach sie es nach einigen Semestern ab. Sie mochte das Autofahren, und sie konnte gut mit allen Menschen. Die Mutter reagierte zunächst entsetzt, der Vater beruhigte.

Fortan fuhr Diana Jaber hauptberuflich Taxi, wurde immer vertrauter mit dem Münchner Straßennetz, bekam zwei Kinder, die heute elf und 14 sind, und wechselte 2004 zu dem Unternehmen, bei dem sie heute noch angestellt ist. Ihr Chef besitzt nur ein Taxi, Diana Jaber ist die einzige Fahrerin. Seit vielen Jahren fährt sie nur noch nachts, meist Dienstag bis Samstag, 16 bis 19 Schichten im Monat, wegen der Zuschläge, weil es ihr tagsüber auf den Straßen Münchens zu stressig zugeht, und weil auch die Menschen nachts im Allgemeinen entspannter sind. 115 bis 230 Kilometer jede Nacht, außer das eine Mal, als sich einer nach Ischgl kutschieren ließ, 200 Kilometer hin, 380 Euro hat das gekostet.

Wer sie eine Nacht im Taxi durch München begleitet, der kann was erleben. Zum Beispiel einen Junggesellen-Abschied aus Vorarlberg. Dessen Protagonist hat von seinen Kumpels ein Bierglas ans Handgelenk und einen Klotz ans Bein gebunden bekommen. Ein Barbetreiber im Glockenbachviertel wollte die Gruppe offenbar loswerden und hat sie in eine ominöse Bar in der Maxvorstadt geschickt. Bei der Ankunft an der Adresse stellt sich heraus, dass die Bar nicht existiert. Zum Beispiel einen Franzose auf Dienstreise, der mitten in der Nacht endlich mal Zeit für Sightseeing hat und sich auf dem Weg zu seinem Hotel die Eisbachsurfer anschauen will, die tatsächlich auch um 23 Uhr noch auf die Bretter steigen. Zum Beispiel eine junge Frau, die sich 200 Meter zu ihrem Hotel fahren lässt. Zum Beispiel drei verzweifelte Durstige, die sich wundern, dass in Neuhausen nachts um halb drei keine Bar mehr geöffnet hat, um ihren Durst zu stillen.

Achteinhalb Stunden zuvor: Während Münchens Büroarbeiter ins Wochenende starten, beginnt Diana Jaber ihren Arbeitstag, indem sie das Auto bei ihrem Chef in Großhadern abholt. Sie schaltet den Digitalfunk ein, über die Zentrale von Isarfunk kann sie nun Aufträge erhalten. Der erste kommt nach wenigen Minuten. Zu welchem Ziel es geht, weiß Diana Jaber vor der Fahrt fast nie. Ist auch gut so, findet sie, es gebe zu viele Fahrer, die kurze Fahrten mürrisch ablehnten. Münchens Taxifahrern eilt nicht der beste Ruf voraus: zu grantig, zu rasant unterwegs, kennen sich nicht aus. Diese Dinge hört man oft. Diana Jaber findet: "Taxifahren ist ein gewisser Luxus, den man sich gönnt, da sollte man die Fahrt auch genießen können."

Die erste Fahrt geht zum Gollierplatz, die Kundin will mit Karte bezahlen, Diana Jaber holt das Gerät aus ihrem Handschuhfach, "mein kleines Büro", sagt sie. Als die Frau draußen ist, dreht sie den Kopf, schaut auf der Rückbank: nichts vergessen? Handys bleiben oft liegen. Es kam aber auch schon vor, dass sie einem Fahrgast aus Versehen ihren eigenen Rucksack mitgegeben hat. "Sieht aus wie meiner", dachte sie damals noch, als sie ihn aus dem Kofferraum fischte. Später fuhr sie eben noch mal bei dem Mann vorbei.

Warten vor einem Hotel im Münchner Westen. Ein Handwerker im Blaumann klopft an die Scheibe. "Wie komm' ich denn zur Gollierstraße? Ich fahr' die ganze Zeit im Kreis." Das wird noch öfter passieren an diesem Abend. Das Taxi als Auskunftsbüro, die Fahrerin als das bessere Navi. Apropos Navigationsgerät: ist vorhanden im Taxi, doch Diana Jaber braucht es nie. Als nächstes wird es voll im Taxi. Tochter, Mama und Oma waren shoppen, als Belohnung für das gute Zeugnis der zweiten Klasse. Nun sind Kind und Oma erschöpft, also ab nach Hause. Eine kurze Fahrt, nach der erst einmal wieder Warten angesagt ist. Diana Jaber entscheidet sich, in der Gegend zu bleiben. "Gegen den Strom fahren", so nennt sie das. Andere Fahrer, sagt sie, machen sich nach jedem Transport sofort wieder auf in die Innenstadt. "Ich bleib' da, wo mich der Fahrgast hinführt", sagt sie, es klingt fast philosophisch. Sie vertraut dem Prinzip Zufall. Natürlich heißt das, dass sie auch mal länger auf einen Auftrag warten muss. "Aber das gleicht sich alles aus."

Der Abend läuft eher gemächlich an. Es sind Schulferien, und ein bisschen scheint es zu sein, als hätte ein Großteil der Bewohner die Stadt sogleich fluchtartig verlassen. Während sie auf Fahrgäste wartet, liest Diana Jaber normalerweise eine Zeitung oder ein Buch. An diesem Tag erzählt sie Anekdoten. Die haben oft mit Betrunkenen zu tun, dieses Klischee übers Taxifahren stimmt dann schon. Zum Beispiel die beiden Norweger beim Oktoberfest vor ein paar Jahren. Der Mann auf der Rückbank war verdächtig still - ein Warnsignal. Und dann ging es los. Beim Speien verlor der Mann sein Gebiss. Als Diana Jaber ihn darauf hinwies, dass seine Zähne am Boden lagen, hob er sie stoisch auf und steckte sie wieder in den Mund. "Da hätte ich mich selbst fast übergeben müssen." Trotzdem versteht sie die Frage nicht, die sie oft hört: "Besoffene nehmen sie aber nicht mit, oder?" Sie gehören halt dazu. "Deshalb nehmen die Leute doch ein Taxi: weil sie getrunken haben." Nicht jeder sei ja gleich völlig dicht. Und wenn schon. Leute, die ordentlich "getankt" hätten, seien empfindlicher. "Sie haben es verdient, ernstgenommen zu werden."

Und was lernt man sonst so über Menschen, wenn man sie nachts durch die Gegend kutschiert, was kriegt man mit von ihnen? Nachts, da sie verletzlicher sind und offener, da die Dunkelheit sie zum Reden bringt und der Alkohol. Manchmal wundert sich Diana Jaber, was die Leute alles aus ihrem Privatleben preisgeben. Gleichzeitig ist sie stolz darauf, dass sie ihr Dinge anvertrauen: Familiendramen, Krankheitsgeschichten, seltener auch Liebeskummer. Sie merkt schon beim Einsteigen, wenn jemand Stress oder Probleme hat. Erst sind die Leute still, dann sprudelt es. Diana Jaber fragt nicht aufdringlich nach, aber wenn jemand einen Zuhörer braucht, dann hört sie zu. Wenn der Fahrgast aussteigt, sind die Probleme zwar nicht gelöst, aber oft ein bisschen leichter. "Und er kann sich sicher sein, dass alles unter uns bleibt", sagt Diana Jaber. Ihr Taxi ist ein geschützter Raum.

Was sie sonst noch gelernt hat, ein bisschen Pauschalisieren muss erlaubt sein: Eine Tankstelle in der Amalienburgstraße hat nachts die besten Brezn, außen knusprig, aber nicht hart, Spanier und Italiener geben kein Trinkgeld, und die schlimmsten Fahrgäste sind Unternehmensberater. Unhöflich oder herablassend, telefonieren ununterbrochen. Einmal hatte sie vier Berater im Auto, jeder mit Handy am Ohr, eine Kakofonie, so laut, dass Diana Jaber überlegte, auch noch zu telefonieren. Um die Typen mal zur Vernunft zu bringen. Sie hat es dann doch gelassen.

Die meisten Fahrgäste jedoch sind angenehme Menschen und wollen einfach nur plaudern, vor allem über München, geliebte Stadt und Sorgenkind, das wächst und wächst und nicht aufhören will. Über seine Menschen, seinen Verkehr, seine Stickoxide. Diana Jabers Taxi fährt mit Diesel, wie fast alle Taxis. Über manche öffentliche Debatte wundert sie sich, zurzeit wundert sie sich sehr. "Die Luft ist doch nicht erst seit gestern so schlecht, und auch nicht seit zwei Jahren." In den Gesprächen geht es aber auch um die Schönheit der Stadt im Sommer, wenn alles entspannter ist, ruhiger, gedämpfter. "Im August ist München am schönsten", sagt eine Frau, ungefähr Mitte 50, auf dem Weg zum Bayerischen Hof, wo sie verabredet ist. "Ich geh' nicht mehr oft weg, aber manchmal dann doch ganz gern", verrät sie und lächelt. Wenn nur die Kleiderfrage nicht wäre. "Das Kleid hat nicht gepasst, wie es immer ist, und dann hab ich das Schwarze angezogen." Sie bezahlt, steigt aus und stöckelt durch die Drehtür des Hotels.

Die blaue Stunde bricht an, Diana Jaber fährt zum Karolinenplatz und bleibt auf dem Taxistandplatz stehen. "Es steigt eigentlich nie jemand ein hier, aber es ist ein schöner Standplatz, die Blumen, der Obelisk, das Amerikahaus." Über Funk sieht sie, dass an der Technischen Universität eine Veranstaltung zu Ende ist. Sie macht sich auf den Weg. Bringt einen Studenten mit seiner Familie gerade rechtzeitig zum reservierten Tisch im Restaurant. Nächste Station: der Standplatz in der Amalienstraße, Maxvorstadt, ihr Lieblingswarteplatz. Während innerhalb von zehn Minuten drei Autos falsch in die Einbahnstraße einbiegen, erzählt Diana Jaber Geschichten von Fahrten zum Bordell. Fahrgast, verdruckst: "Ich will da gar nicht hin, ich hab' eine Frau daheim, mein Kumpel hat mich überredet." Fahrerin: "Es ist mir wurscht, wo Sie hinwollen." Fahrgast beim Aussteigen: "Wir gehen nur an die Bar." Fahrerin, schulterzuckend: "Wie Sie wollen."

Als Frau ist Diana Jaber eine Exotin in der Taxibranche. Sie empfindet diesen Status als Vorteil. Manche Frauen steigen gezielt bei ihr ein. Aber auch Männer freuen sich, zur Abwechslung von einer Frau gefahren zu werden. Einer, der in dieser Nacht von einer ausgelassenen Feier mit Freunden beim Griechen kommt, freut sich so sehr, dass er sich mit Wangenkuss von ihr verabschiedet. Seiner Freundin ist das peinlich, sie hievt ihn aus dem Taxi, zurück bleibt eine Ouzo-Wolke.

Um halb vier macht Diana Jaber Feierabend. Mehr als neun Stunden ist sie durch die Stadt gefahren, hin und her, kreuz und quer. Zu Hause in Geretsried wird sie leise den Schlüssel umdrehen und ins Wohnzimmer tapsen, wo ihr Mann auf dem Sofa schläft, wie immer, wenn sie von der Arbeit kommt. Sie wird ihn sanft aufwecken und ins Bett bringen. Es wird der letzte Transport ihres Abends sein.

© SZ vom 02.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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