SZ-Forum:Wir müssen reden

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Großer Andrang beim SZ-Forum: Drei KZ-Überlebende und ein Wehrmachtsdeserteur im Gespräch mit den SZ-Redakteuren Christian Krügel und Helmut Zeller. (Foto: Johannes Simon)

Drei KZ-Überlebende und ein Wehrmachtsdeserteur sprechen über kollektive Traumata, europäischen Antisemitismus - und Hoffnung

Von Viktoria Großmann

Eva Umlauf überlebte als zweijähriges Kind das KZ Auschwitz, Richard Wadani desertierte von der Wehrmacht zur tschechoslowakischen Exilarmee, Ágnes Heller entkam nur zufällig einer Erschießung, Abba Naor überlebte zwei Außenlager des KZ Dachau - heute sind diese Menschen 72, 93, 85 und 87 Jahre alt. Wie konnten sie das überstehen? "Ich wollte leben, ganz einfach", sagt Abba Naor. Er ist Oberhaupt einer großen Familie: mit zwei Kindern, fünf Enkeln und acht Urenkeln. Auch die anderen drei haben nach dem Krieg Familien gegründet oder erfolgreiche bis heute andauernde berufliche Laufbahnen genommen. Sie mussten lernen, mit ihren Erinnerungen zu leben, mit ihnen umzugehen, Traumata zu überwinden und darüber zu sprechen. So, wie es ganze Generationen von Opfern der NS-Zeit und ihrer Kinder tun mussten. Nun ist der Krieg 70 Jahre vorbei. Aber hat Europa aus dem Holocaust gelernt? Diese Frage sollte am Donnerstag mit den Gästen in einem SZ-Forum diskutiert werden. Moderiert wurde das Gespräch in der Allerheiligen-Hofkirche von Christian Krügel, Leiter des SZ-Ressorts München, Region und Bayern, und von Helmut Zeller, Leiter der Dachauer SZ.

"Das ist eine ganz einfache Frage", sagt Eva Umlauf. Ihre Antwort lautet: "Der Antisemitismus ist nie verschwunden." Hätten die Deutschen und alle Europäer aus der Geschichte gelernt, dann dürfte es ihn nicht mehr geben. Immerhin, sagt Umlauf, sei das Diffamieren der Juden nicht salonfähig. Ágnes Heller, bei György Lukács promovierte Philosophin, lacht verschmitzt und sagt: "Was heißt lernen?" Die Wissenschaftlerin will die Begriffe klären. Dann zählt sie flink die Arten des Antisemitismus auf. Zum einen, sagt sie, sei er die Waffe der Populisten, der extremen Rechten und halbfaschistischer Parteien. Zum anderen gebe es den linken Antisemitismus, der sich im Hetzen gegen Israel zeige. Immerhin, den alten Antijudaismus, der von den Kirchen ausgegangen sei und Juden als Christusmörder verunglimpfte, der sei überkommen, sagt Heller. Doch auch in der Art, mit Geschichte umzugehen, Geschichte umzudeuten oder umzuschreiben, könne sich Antisemitismus zeigen. Ungarn, sagt Heller, erkläre gern, der Judenmord im Zweiten Weltkrieg sei allein den Deutschen anzulasten. "Aber das waren auch die Ungarn selbst", sagt sie. Allein hätten die Deutschen es wohl nicht geschafft, eine halbe Million ungarischer Juden zu ermorden.

Die Ungarin Heller, die gebürtige Slowakin Umlauf und der aus Litauen stammende Naor haben alle nicht nur den mörderischen deutschen Antisemitismus überlebt, sie haben auch in ihren Herkunftsländern Anfeindungen erfahren und erleben sie in Deutschland und anderen europäischen Ländern teils noch heute. "Ist das Judentum ein Problem der Juden oder ein Problem der Nichtjuden?", wendet sich Naor an Heller. "Es ist ein Problem der Nichtjuden", sagt Heller.

Richard Wadani hat den Kampf für Gerechtigkeit sein Leben lang zu seinem Problem gemacht. Aufgewachsen als Kind einer österreichischen Arbeiterfamilie in Prag, sozialdemokratisch erzogen, war er Mitglied einer linken Jugendbewegung, bevor er als österreichischer Staatsbürger zum Dienst in der deutschen Wehrmacht verpflichtet wurde. "Ich musste die fürchterlichen Verbrechen erleben, die die Wehrmacht beging", sagt er. Seinen Entschluss zu fliehen hat er nicht spontan gefasst, sondern mit seiner Mutter besprochen. Sie gab ihm ein weißes Tuch mit auf den Weg. Als Wadani - nach einem gescheiterten Versuch 1942 - 1944 tatsächlich die Flucht gelingt, ist das Tuch nicht mehr ganz so weiß. Die Amerikaner nehmen ihn trotzdem auf. Er kommt zur tschechoslowakischen Exilarmee, die in einer britischen Einheit kämpft. "Ich wollte mich nicht vor dem Dienst verstecken in irgendeinem Keller, ich wollte nicht passiv sein", sagt Wadani. Bis 1946 bleibt er bei der Armee, dann reist er aus nach Österreich und lässt sich in Wien nieder. Als er Papiere beantragt, fährt ihn der Beamte an: "Wie kommen Sie dazu, in einer fremden Armee zu dienen?" Wadani ist erst erstaunt, dann empört, dass die Österreicher "die Hitler-Armee als ihre Armee ansahen". Erst 2009 rehabilitiert das österreichische Parlament die Wehrmachtsdeserteure - ein Erfolg in Wadanis jahrelangem Kampf um Anerkennung.

Der Antisemitismus, sagt Wadani, hat nie aufgehört. "Er hat nur seine Lautstärke verändert." Nach dem Krieg sei er in Österreich eher leise gewesen, zwischenzeitlich sei er lauter geworden, "um wieder ans Ohr der Bevölkerung zu kommen". Wadani hat seine eigene Lehre gezogen. Sie heißt Erziehung. Was, wenn er in einem deutschnationalen Elternhaus groß geworden wäre? "Dann wäre ich wohl nicht desertiert", sagt er.

Erziehung ist die eine, Vererbung die andere Seite. Eva Umlauf, Ärztin und Psychotherapeutin, spricht von "Gefühlserbschaften". Damit meint sie das, was Menschen, die erlebte Grausamkeiten und Traumata nicht verarbeiten, an ihre Kinder weitergeben in nonverbalen Botschaften. Umlaufs Mutter fiel es schwer, mit ihren Töchtern über die Gefangenschaft in Auschwitz zu sprechen. "Man fragte das nicht", sagt Umlauf. Auch Ágnes Heller, die als 15-Jährige im Krieg bereits sicher war, dass sie sterben würde, erklärt, dass sie nach dem Krieg zunächst nur vergessen wollte. "Man konnte nicht reden", sagt Abba Naor, "weil uns keiner zugehört hat." Doch nicht nur die Opfer, auch die Täter schwiegen - und gaben die Belastung damit weiter. "Man muss sich auseinandersetzen", sagt Umlauf.

Die vier Menschen auf dem Podium der Allerheiligen-Hofkirche wurden in Budapest, in Prag, im litauischen Kaunas und im NS-Arbeitslager Nováky in der Slowakei geboren. Sie haben die deutsche Sprache in Konzentrationslagern gehört, in Befehlen und tödlichen Kommandos. Doch sie sprechen miteinander, mit ihren Moderatoren, zu ihrem Publikum deutsch. Die vier mögen unterschiedliche Ansichten zu Hoffnung und dem Lernen aus der Geschichte haben. Die Wahl ihrer Sprache aber wirkt wie eine Geste ungeheurer Großmut. In ihr vermitteln sie ihre wichtigste Botschaft: Wir müssen reden.

Besonders viel Hoffnung setzt Eva Umlauf in die Jugend. Auch wenn Philosophin Heller der Psychotherapeutin entgegen hält: "Die Menschen lernen nicht." Aus der Geschichte lerne die Menschheit nur, dass sie nichts lernt, zitiert sie Hegel. Naor, Wadani und Umlauf besuchen trotzdem regelmäßig Schulklassen und berichten als Zeitzeugen. Die junge Generation sei oft sehr zugänglich, sagt Umlauf. "Sie müssen nichts verleugnen, sie müssen nichts schönen." Oft verstünden die Kinder mehr als die Erwachsenen, fügt Naor hinzu. Wadani schöpft Hoffnung aus stärker werdenden Protestbewegungen, etwa gegen rechte Burschenschaften, und Demonstrationen wie das Lichtermeer, mit dem Menschen an diesem 9. Mai in Wien gegen Fremdenhass, zu Versöhnung und Frieden aufrufen. Naor ist sich sicher, dass in den Jugendlichen, die seine Geschichte und die anderer Zeitzeugen verinnerlichen, kein Hass wachsen wird. "Sie werden vielleicht bessere Menschen werden." Umlauf stimmt ihm zu und sagt: "Zum Umdenken braucht es zuerst ein Nachdenken." Die Zeitzeugenschaft sieht sie als ihre Verpflichtung, als ihre Aufgabe an. "Wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen weiter erzählen", sagt Naor.

© SZ vom 09.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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