SZ-Adventskalender (IV):Geliebtes behindertes Kind

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Die Diagnose irreversibler Schäden bei Sohn oder Tochter treibt Familien oft an den Rand des Abgrunds.

Monika Maier-Albang

In den Renault von Susanne B. passen Boris' Rollstuhl, der Spezial-Klodeckel und sein "fliegender Teppich", ein an den Rändern ausgefranster roter Perser, ohne den ihr Sohn die Wohnung nicht verlässt. Im Auto kann Susanne B. die Musik so laut aufdrehen, dass Boris, der fast taub ist, sie hören kann. Mit dem Auto fährt sie ihn zum Arzt und immer mal wieder zum Teppichgeschäft, um Boris eine Freude zu machen.

(Foto: Foto: SZ)

Ihr Sohn liebe es, weiche Stoffe anzufassen, erzählt Frau B., während sie Boris zärtlich den Kopf streichelt und so mit ihm spricht, dass er ihre Worte von den Lippen ablesen kann. Dann fällt ihr noch etwas ein, was man mit dem Auto tun könnte, aber das sagt sie ganz leise und mit dem Zusatz, dass sie "dafür" zu gläubig sei: "Gegen einen Baum fahren. Dann wäre die Gesellschaft uns los."

Susanne B. war Studentin, als sie Boris bekam. Das Baby hatte einen offenen Gaumen, aber von einem Gendefekt war damals noch nichts zu sehen. Inzwischen ist Boris 25 Jahre alt, 24 Jahre davon hat Susanne B. ihn versorgt. Sie hat ihn täglich gefüttert, gewickelt, gehoben, bis ihr die Schmerzen im Rücken Tränen in die Augen trieben. Auf 54 Kilo war sie abgemagert und mit den Nerven so am Ende, dass sie Boris schließlich ins Wohnpflegeheim der Helfenden Hände nach Aubing gab. Eine Entlastung, die Susanne B. sich eigentlich nicht leisten kann.

Bewerbungen ohne Erfolg

Denn seit ihr Sohn unter der Woche versorgt wird, bekommt die Mutter nur noch für die Tage Pflegegeld, an denen er bei ihr ist. Und ein Neuanfang ist für Frau B. schwierig. Die 54-Jährige erzählt, dass sie eine Bewerbung nach der anderen abschicke, sich in jedem Geschäft, in dem sie einkauft, um eine Stelle bewerbe. Bislang ohne Erfolg. "Ich gehöre wohl zum alten Eisen", sagt sie enttäuscht. Ihr Lebenslauf sehe ja auch so aus, als habe sie nie richtig gearbeitet.

Nicht gearbeitet? "Es ist Schwerstarbeit, sich um ein behindertes Kind zu kümmern", sagt Stefan Baumgartner, Wohnheimleiter bei den Helfenden Händen. Er kann Geschichten davon erzählen, wie sehr Eltern eines behinderten Kindes sich heute noch immer "als Aussätzige fühlen", wie sie vereinsamen.

Wer sich allein um ein behindertes Kind kümmert und sich wie Susanne B. nicht mal stundenweise einen Betreuer leisten kann, hat kaum eine Chance, mal mit Freunden wegzugehen oder in einem Verein Kontakte zu pflegen. Und je älter das Kind wird, umso schwieriger wird die Betreuung. "Das Kind wird schwerer, und die Eltern werden älter", sagt Baumgartner. Er weiß, dass es die Eltern Überwindung kostet, ihr Kind "Fremden zur Pflege anzuvertrauen". Vorausgesetzt, man bekommt einen Platz in einer Einrichtung. Die meisten haben Wartelisten.

Susanne B. wollte nie vom Staat abhängig sein. Als Boris noch zur Schule ging, nahm sie jede Arbeit an: Sie trug Briefe aus, half in der Buchhaltung, räumte Kleider in Regale ein. Abends fiel sie totmüde ins Bett, um wenigstens etwas Schlaf zu bekommen. Doch alle paar Stunden musste sie aufstehen, um die entzündete Haut ihres Sohnes einzucremen. In den letzten Jahren hielten ihn Schmerzen wach. Sechs Operationen an der Wirbelsäule hat Boris hinter sich.

Vor fünf Jahren begann sich seine Wirbelsäule immer stärker zu krümmen. Frau B. sorgte sich, dass durch den Druck seine Organe Schaden nehmen könnten und fing an, im ganzen Bundesgebiet nach einem Spezialisten zu suchen. Im Juli 2001 wurde Boris in Hamburg operiert. Susanne B. erzählt, dass sie während der zwölfstündigen Operation, in der ihrem Sohn ein Edelstahl-Implantat zur Stabilisierung der Wirbelsäule eingesetzt wurde, außer sich war vor Angst. Später sollte sich auch noch herausstellen, dass Boris' Körper das Implantat nicht vertrug. In fünf Operationen wurde die Stange Stück für Stück wieder entfernt. Nur so viel ist noch übrig, dass Boris sitzen kann.

Dann geht der Vater

Diese letzten Jahre seien über ihre Grenzen gegangen, sagt Frau B.; Hilfe bekommt sie kaum. Boris' Vater verließ die Familie bald nach der Geburt. Ein befreundetes Ehepaar leiht ihr hin und wieder Geld, wenn sie nicht weiß, wovon sie Essen kaufen soll. 78 Euro blieben im Monat zum Leben übrig, sagt Susanne B. - nach Abzug der Miete und der Raten für den Gebrauchtwagen. Wenn sie nicht bald Arbeit findet, wird sie Boris wohl wieder ganz nach Hause holen. "Wobei ich nicht weiß, wie ich das schaffen soll."

Auch Jennys Mutter ist manchmal am Ende ihrer Kraft. Aber wenn sie sieht, wie ihr Mädchen kämpft, macht ihr das Mut. Jennys Familie wohnt im vierten Stock, Altbau. Und Treppensteigen ist für Jenny sehr mühsam. Wenn sie von der Schule kommt, will sie erst mal allein sein. Sie legt sich auf ihr Knuddelkissen am Boden, kaut an den Fingern, blickt in die Ferne. Jenny ist mit dem Rett-Syndrom auf die Welt gekommen. Doch man sieht ihr die Krankheit kaum an: ein hübsches Mädchen mit langen dunklen Haaren. Aber Jenny kann nicht sprechen, muss mit zwölf Jahren noch gewickelt werden, hat starke autistische Züge. Sie zieht sich zurück in ihre Welt, nimmt das, was um sie herum geschieht, kaum wahr.

Erst spät hat Jenny Mutter erfahren, dass ihr Kind behindert ist. Denn Mädchen mit Rett-Syndrom entwickeln sich zunächst völlig normal. Jenny fing an zu sprechen, war sauber, stand sogar schon auf Skiern, denn Jennys Familie liebt es, in den Bergen zu sein. "Plötzlich", sagt Bettina D., ihre Mutter, "war die Sprache weg". Von da an entwickelte Jenny sich sozusagen rückwärts. Im Mai 2000 kam die Diagnose: Mutationen auf Gen MECP2. Zwei Geschwister und eine Zwillingsschwester hat Jenny. Bettina D. versorgt ihre vier Kinder allein. Stundenweise ist Jenny in einem Verein untergebracht, so dass ihre Mutter sich auch um die anderen Kindern kümmern kann. Früher arbeitete Bettina D. als Sozialpädagogin. Doch als Jennys Krankheit immer ausgeprägter wurde, musste sie ihre Arbeit aufgeben.

Schluss mit der Therapie

Sie schafft es, vom Arbeitslosengeld zu leben, indem sie Kleidung, Spielzeug, Möbel nur gebraucht kauft. Doch immer wieder muss sie Kürzungen verkraften - zuletzt strich die Krankenkasse Jennys wöchentliche Reittherapie. Bettina D. versucht, Jenny das Reiten weiterhin zu ermöglichen, doch das Geld fehlt bei Anschaffungen für die anderen Kinder.

Wünschen würde sie sich auch einen geländegängigen Reha-Jogger, um Jenny in die Berge mitnehmen zu können. Früher schleppte sie ihre Tochter im Fahrradanhänger die Waldwege hinauf, doch inzwischen ist ihr Jenny mit ihren 40 Kilo zu schwer. Dringend bräuchte Bettina D. auch einen Wasserfilterstaubsauger, um Jennys Hausstauballergie in den Griff zu bekommen. Der alte Staubsauger hat letztes Jahr seinen Geist aufgegeben. Und so ein Spezialstaubsauger ist für sie sogar gebraucht unerschwinglich.

© SZ vom 17. Dezember 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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