SZ-Adventskalender III:Entfaltung

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Ein Theaterprojekt will Betroffenen das "Zutrauen in Mensch und Kultur zurückgeben"

Von Yvonne Gross, Haar

Auf der Bühne ist "Die Physiker" von Friedrich Dürrenmatt zu sehen, ein Stück, das in der Psychiatrie spielt. Nichts Ungewöhnliches, doch das Besondere in diesem Fall: Fast alle Schauspieler sind selbst Patienten einer psychiatrischen Einrichtung. Sie sind Teil des Theaterprojekts "Der Blick", das eingegliedert in das Angebot des Sozialpsychiatrischen Zentrums der Kliniken des Bezirks Oberbayern (kbo) kreativen Entfaltungsraum für psychisch Erkrankte schafft.

Jede Woche treffen sich "Menschen, die eigentlich in sich gefangen sind", wie es Matthias Riedel formuliert, und proben an einem Stück. Riedel ist Kultur-Bereichsleiter der kbo, das Projekt ist ihm ein ganz besonderes Anliegen: "Hier können sich Menschen, die schon lange mit einer psychischen Erkrankung leben, über einen kreativen Prozess mit der eigenen seelischen Gesundheit auseinandersetzen." Er stellt fest, dass Betroffene noch immer unverhältnismäßig stigmatisiert würden, obwohl es sich um ernsthafte, schwere Erkrankungen handele. Ihnen bei der Gesundung zu helfen, sei eine besondere gesellschaftliche Aufgabe, für die es nach wie vor an Mitteln fehle.

"Der Blick" als eine Form des inklusiven Theaters ist da ein wichtiges Projekt, das dazu beitragen soll, Betroffenen das "Zutrauen in Mensch und Kultur zurückzugeben" und das gleichzeitig Akzeptanz schaffen kann. Vergangenes Jahr wurde unter der Leitung von Jan Meyer das Dürrenmatt-Stück aufgeführt; nach einigen Einführungswochen, die dem Beschnuppern und Grundlagenübungen gewidmet waren, entschieden sich die Schauspieler dann für einen Text, der nah am eigenen Leben ist: "Die Physiker" - ein Stück, in dem sich drei Physiker als Geisteskranke ausgeben - feierte dann nach einem halben Jahr gemeinsamer Proben im Juli erfolgreich Premiere.

"In jedem Menschen steckt ein Ausdruck, der Raum verdient", sagt Meyer. Austausch und gegenseitiges Vertrauen würden die wöchentlichen Treffen zu etwas sehr Wertvollem machen. Der Regisseur wünscht sich, dass die Offenheit, die in dem Projekt gelebt wird, auch als Modell für andere Bereiche des alltäglichen Lebens dient. Sein schönster Moment im vergangenen Produktionsjahr? Nachdem er selbst eine Szene vorgespielt hatte, rief jemand aus der Theatergruppe mit einem breiten Lächeln auf den Lippen: "Der ist ja verrückter als wir!"

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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