Stolperstein-Debatte:Steine des Anstoßes

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Stelen und Tafeln sollen an NS-Opfer erinnern. Nach dieser Entscheidung der Rathauskoalition kämpft jeder gegen jeden

Von Martin Bernstein und Andreas Glas

Am Montag hat die rot-schwarze Rathauskoalition verkündet, dass es auch in Zukunft keine Stolpersteine auf öffentlichem Grund geben soll, dafür aber Gedenktafeln an Hauswänden oder - falls Hausbesitzer das nicht wollen - auf Stelen und ein großes Mahnmal, auf dem die Namen aller Münchner Opfer des Nationalsozialismus zu lesen sind. Ein Kompromiss? Offenbar nicht: Denn am Tag danach schimpft jeder über jeden. Die CSU über die Stolperstein-Initiatoren und umgekehrt, die Opposition über die Koalition, die Koalition über den Künstler.

"Eine Sackgasse" sei die rot-schwarze Lösung, findet Terry Swartzberg, der Vorsitzende der Münchner Stolperstein-Initiative. Weil die Initiative fast 80 000 Unterschriften gegen das Stolperstein-Verbot gesammelt hat, wirft er SPD und CSU nun fehlenden Respekt vor dem "mehrheitlichen Willen der Stadtgesellschaft" vor. Dieser Vorwurf, findet wiederum CSU-Stadtrat Richard Quaas, zeuge "von erheblicher Arroganz und mangelndem demokratischen Verständnis". Quaas rechnet vor, dass die Unterzeichner "nicht einmal zehn Prozent der Bevölkerung" Münchens repräsentierten.

Über diese Haltung ärgert sich Florian Roth. "Ist Gedenken etwas, das von oben kommt, wo sich CSU und SPD zusammensetzen und hinterher sagen, dass sie es besser wissen als die Gesellschaft, die Opferverbände und die Enkel von Ermordeten?", fragt der Vorsitzende der Grünen-Fraktion. Das Wort der Angehörigen sei das Wichtigste, nicht das Wort der Politiker, sagt Roth. Außerdem findet er, dass sich SPD und CSU zu stark von Charlotte Knobloch haben beeinflussen lassen, der Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), die sich vehement gegen die Stolpersteine ausgesprochen hatte. Noch vor zwei Wochen, sagt Roth, habe sich auch die CSU das Verlegen von Stolpersteine vorstellen können - zumindest unter der Voraussetzung, dass dies der ausdrückliche Wille der Angehörigen der Opfer ist. Danach habe es noch mal Gespräche zwischen Knobloch und den beiden Koalitionsfraktionen gegeben und Rot-Schwarz sei umgekippt. Und tatsächlich heißt es aus Koalitionskreisen, dass die Stelen-Lösung eine Idee gewesen sei, "auf die uns Frau Knobloch aufmerksam gemacht hat".

Knoblochs Furcht, dass die Erinnerung an die Opfer buchstäblich "mit Füßen getreten" werde, sei "der wesentliche Einwand" gegen eine Aufhebung des Stolperstein-Verbots gewesen, sagt auch Alexander Reissl, der Vorsitzende der SPD-Fraktion. Gerade vor diesem Hintergrund findet wiederum FDP-Stadtrat Michael Mattar den rot-schwarzen Kompromiss "zu kurz gedacht". Schließlich bestehe auch bei den Tafeln die Gefahr, dass sie beschmiert werden könnten, dass Hunde gegen die Stelen pinkeln oder Radfahrer ihrer Räder daran festketten. "Wenn man Angst hat, dass die Stolpersteine beschädigt werden, dann ist das bei den Stelen in gleichem Maße gegeben", sagt Mattar, der außerdem befürchtet, dass die Stelen eine Verkehrsgefährdung darstellen könnten.

Auch Swartzberg hält das Ergebnis der "Willensbildung hinter verschlossenen Türen" für einen "total unausgegorenen Schnellschuss". Seine Initiative, die Stolpersteine bisher nur auf Privatgrund verlegen darf, wisse, wie schwierig Verhandlungen mit Hausbesitzern seien. Oft gar nicht aus bösem Willen. Swartzberg berichtet von einem aktuellen Fall, in dem 30 Mitglieder einer Eigentümergemeinschaft einzeln überzeugt werden müssten. "So etwas kann Jahre dauern." Nach dem Willen von CSU und SPD sollen das künftig die Angehörigen leisten: "Wir wollen ein Modell greifen lassen, das möglichst wenig Bürokratie bedeutet", sagt Reissl. Das heißt: Um die Erlaubnis, eine Tafel an einer Hauswand anzubringen, soll sich die Opferfamilie erst einmal selbst kümmern - und dann die Gedenktafeln auch selbst zahlen. Und die Stelen? Das sei "noch nicht abschließend geklärt", sagt Reissl, sein CSU-Kollege Podiuk dagegen findet, dass die Angehörigen auch für die Stelen zahlen sollen.

Dass SPD und CSU das Nein zu den Stolpersteinen an der Opposition vorbei entschieden haben, bezeichnet FDP-Stadtrat Mattar als "ein Vorgehen, das gerade bei einem so heiklen Thema nicht akzeptabel ist". Grünen-Fraktionschef Roth fühlt sich sogar "hinters Licht geführt" - auch dadurch, dass Rot-Schwarz seine Lösung als Kompromiss darstellt. "Es ist kein Kompromiss, sondern eine Alternative", sagt Roth. Schließlich bliebe damit das Stolperstein-Verbot ja bestehen. Wenn es nicht doch anders kommt: Ein Entwurf des Kulturreferats, nachdem die Angehörigen, ein Fachbeirat und eine Koordinierungsstelle über Stolperstein-Verlegungen entscheiden würden, liegt derzeit ebenso weiterhin auf dem Tisch wie ein Antrag der Grünen, Stolpersteine in München zuzulassen. Eine Abstimmung im Kulturausschuss wird es frühestens Ende Juni geben. Bis dahin will Swartzberg "mit Beharrlichkeit, Freundlichkeit und Fairness" weitermachen. Und mit einem großen "Roll-Out": Eine Liste mit den Namen der Unterstützer des Stolperstein-Projekts soll vor dem Rathaus entrollt und anschließend Oberbürgermeister Dieter Reiter übergeben werden.

© SZ vom 29.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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