Todesmärsche:Mut zur Erinnerung

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Die Gedenkveranstaltungen in Starnberg, Bernried und Seehaupt erinnern an die Greuel der letzten Kriegstage im April 1945. Damals wurden Tausende KZ-Häftlinge durch das Würmtal und Starnberg getrieben oder mit dem Todeszug an den See gebracht

Von Kia Ahrndsen, Otto Fritscher, Sylvia Böhm-Haimerl und Martin A. Klaus, Starnberg/Bernried/Seeshaupt

"Da es immer weniger Zeitzeugen gibt, werden Veranstaltungen wie diese hier am Pilgrim-Denkmal vor dem Landratsamt immer wichtiger", sagt Rainer Hange. Er steht neben dem Denkmal, das an den Todesmarsch von KZ-Häftlingen aus Dachau in den letzten April-Tagen des Jahres 1945 erinnert. Von SS-Schergen werden sie durchs Würmtal, durch Starnberg und dann Richtung Wolfratshausen getrieben, wer nicht mehr kann bleibt einfach liegen. "Ein Tiefpunkt menschlicher Grausamkeit", sagt Hange, der die Gedenkveranstaltung vor fünf Jahren ins Leben gerufen hat. 50 Gäste, darunter Landrat Karl Roth, sind auf Einladung des Vereins "Gegen das Vergessen und für Demokratie", dessen Vorsitzender Hange ist, gekommen, um der Gedenkveranstaltung beizuwohnen. Nach einem Klarinettenstück zitieren zwei Schüler der Starnberger Mittelschule Erlebnisberichte von zwei Häftlingen, die sie nach dem Todesmarsch aufgeschrieben haben. Still und versunken hört die kleine Schar zu. "Es braucht das Erinnern und wir brauchen eine Erziehung zum kritischen Denken", sagt Hange, bevor die Gäste ins Foryer des Landratsamts weiterziehen, wo Roth die Ausstellung "Die Kinder vom Lager Föhrenwald" eröffnet. Dort, nahe Wolfratshausen, entstand kurz nach dem Krieg das größte Lager für "Displaced persons" in ganz Deutschland. Daran erinnert die Ausstellung, die noch bis zum 18. Mai läuft.

Nur eine kleine Gruppe von Leuten steht an diesem Tag im Graupelschauer am Bahnhof Bernried. Obwohl alle in dicke Winterkleidung eingepackt sind, frieren sie. Auf den Tag genau vor 72 Jahren, am 28. April 1945, hat es ebenfalls geschneit. Damals hielt ein Güterzug mit rund 2000 KZ-Häftlingen im Bernrieder Bahnhof. "Sie hatten nur ihre graublauen, zerfetzten Häftlingskleider an", erklärt Judy Gorsch. Die nackten Füße seien mit Lumpen umwickelt gewesen. Jeder, der zur Gedenkfeier am Freitag an der zugigen Gleisanlage vor dem Bahnhof stand, um an die schrecklichen Ereignisse von damals zu erinnern, konnte sich lebhaft vorstellen, wie diese halb verhungerten Gestalten gefroren haben müssen, als sie von bewaffneten SS-Männern zu einer Rampe getrieben wurden, um ihre Notdurft zu verrichten.

Rainer Hange (rechts neben dem Denkmal) setzt sich dafür ein, die Erinnerung an den Todesmarsch von KZ-Häftlingen durch Starnberg wachzuhalten. (Foto: Georgine Treybal)

Den Zug wollte damals niemand haben, weder Seeshaupt noch Tutzing. Ein paar Tage später kamen die Amerikaner und gaben den Häftlingen ein Plünderungsrecht von drei Tagen. Bernried blieb verschont, da die Gemeinde unter dem Schutz der Schweizer Gesandtschaft stand, die in Höhenried ausgelagert war. "Sie kamen nicht plündernd, sondern nur bettelnd", erinnert sich Zeitzeugin Annemarie Gutmann und erzählt, wie ihre Mutter die Kartoffelsuppe mit Milch und Wasser gestreckt hat, um sie mit den Häftlingen zu teilen.

Mehr als 60 Jahre lang versuchte man, den 28. April 1945 zu vergessen. Die gebürtige Ungarin Gorsch fragte sich, warum "das eine totgeschwiegene Geschichte in Bernried war" und forschte nach. Sie lernte Annemarie Gutmann kennen und schrieb ihre Erinnerungen auf. 2005 gründete Gorsch die "Bahnhofsgruppe Bernried", die seither jedes Jahr den Gedenktag organisiert. Früher war Gutmann selbst dabei. Dieses Mal liest ihre Urgroßnichte Elisabeth Starke aus den Erinnerungen der heute 91-Jährigen vor. Anschließend wird der Häftlingszug nachgestellt, begleitet von der wehmütigen Musik der Geigerin Franziska Preuß. Die Teilnehmer legen Blumen nieder und zünden Kerzen entlang der Bahngleise an. Später berichtet Barbara Hackl von der Bahnhofsgruppe, wie es dazu kam, dass die Apfelsorte "Korbinian Aigner" als "Baum der Versöhnung" am Bahnhofsvorplatz gepflanzt wurde.

Franziska Augstein spricht vor dem Seeshaupter Mahnmal. (Foto: Georgine Treybal)

"Seeshaupt mag klein sein", sagt Franziska Augstein bei der Gedenkfeier am Mahnmal in der Bahnhofstraße vor etwa 100 Zuhörern, "aber was Sie hier für die Erinnerung tun, ist groß". Die Journalistin und Autorin, Tochter des Spiegel-Herausgebers Rudolf Augstein, erinnert daran, dass sich der Ort nicht leicht getan hat, das Mahnmal zur Erinnerung an die Befreiung von 1800 KZ-Häftlingen aus dem sogenannten Todeszug, zu errichten. Diese Entscheidung sei dennoch, so Augstein, nicht zu spät gekommen. Für die Überlebenden sei es nach dem Krieg zunächst einmal darum gegangen, wieder ein Dach über dem Kopf und ein Essen auf dem Tisch zu haben - über Schuld und Schande habe noch lange niemand nachdenken wollen. Das gelte nicht nur für die Täter, sondern ebenso für die Opfer. Wer so sehr gedemütigt wurde, der wolle daran nicht denken, wolle darüber nicht sprechen. Imre Kertész, so Augstein, der schon als Kind Schriftseller werden wollte, habe seine Erlebnisse erst Jahrzehnte nach seiner Befreiung, im "Roman eines Schicksallosen" verarbeiten können. Ähnlich sei es Jorge Semprun gegangen. Erinnerung, warnt Augstein, sei gefährlich. Sich zu erinnern bedeute, alles möglichst auszuhalten, was man eigentlich vergessen wollte. Seeshaupt sei tapfer, weil es sich erinnere, sagt die Journalistin.

James Cohen von der jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München übermittelt die Grüße von Louis Sneh aus Los Angeles, der 1945 als Jugendlicher aus dem Zug befreit worden war und seitdem Seeshaupt als den Ort seiner zweiten Geburt sieht. "Euretwegen glaube ich noch an die Menschlichkeit", lasse er ausrichten, sagt Cohen. Der evangelische Pfarrer Julian Lademann hatte zuvor an den britischen Schriftsteller Edmund Burke erinnert, der gesagt hatte, dass das Böse nur dann triumphiert, wenn die guten Menschen gar nichts mehr tun. Im gemeinsamen Gebet bittet sein katholischer Amtskollege Mladen Znahor um den Mut zur Erinnerung, damit aus der Geschichte Widerstand erwachse. Bürgermeister Michael Bernwieser mahnt die Zuhörer, sich nicht nur am 30. April zu erinnern, sondern auch an anderen Tagen gegen Ungerechtigkeit und für den Frieden aufzustehen.

Die Teilnehmer der Gedenkveranstaltung in Bernried legen am Bahnhof auf den Gleisen Blumen nieder. Dort, wo 1945 der Todeszug stehen blieb. (Foto: Georgine Treybal)

Die Jugend prägt den zwanzigsten Gedenkzug zur Erinnerung an den Todesmarsch von Dachau entlang der Mahnmale durch das Würmtal. Bereits beim Start in Lochham sind mehr als die Hälfte der Teilnehmer Schüler der Gymnasien und der Realschule. Ein "wunderbares Zeichen", so Friedrich Schreiber, Vorsitzender des Vereins Gedenken im Würmtal. Gymnasiasten gestalten auch die Erinnerung an Verstorbene an den Mahnmalen. In Krailling ehren die Schülerinnen der Realschule Gauting einen Anwesenden: Die Hoffnungen auf eine Begleitung der künftigen Gedenkzüge durch Überlebende richten sich nun auf Max Volpert. Der knapp 86-Jährige war vermutlich der Jüngste im Leidenszug 1945. Auch heuer absolvierte er den Gedenkzug in voller Länge zu Fuß.

© SZ vom 02.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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