Seefeld:Überraschung

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Russischer Film als "junges Kino" ausgezeichnet

Von Armin Greune, Seefeld

Ein Dutzend Beiträge sind in der FSFF-Wettbewerbsreihe "Perspektive junges Kino" zur Auswahl gestanden. Mit der Entscheidung für "The Man Who Surprised Everyone" traf die fünfköpfige Jury dabei freilich weniger eine Wahl nach dem Alter der Filmemacher - die bereits im vierten Lebensjahrzehnt stehen - als nach der Kraft der Bilder und der Story. In langen Einstellungen und vielen Nahaufnahmen streng naturalistisch gefilmt, erinnern Bild und Ton des Films an die Dogma-Schule. Die Kamera verweilt lange auf den Gesichtern der Hauptdarsteller, die je nach Rolle ein weites Spektrum von Emotionen ungebrochen erkennen lassen oder Gefühlsregungen nur subtil andeuten. Natasha Merkulova und Aleksey Chupov haben ein sehr eigenständiges Werk geschrieben und gedreht, das sein Publikum unweigerlich in den Bann zieht - obwohl oder gerade weil es ohne Effekthascherei und viele Worte bloß streng chronologisch eine simple Geschichte erzählt, die sich nicht mal eindeutig einem Genre zuordnen lässt.

Der Film beginnt wie ein Western: Der Wildhüter Egor (Evgeniy Tsyganov) spürt in der sibirischen Taiga zwei Wilderer auf, es kommt zum Showdown, bei dem Egor die Männer in Notwehr tötet. Daheim im Dorf führt er ein intaktes Familienleben: Seine Frau Natalia (Natalya Kudryashova, für die Rolle in Venedig als beste Darstellerin ausgezeichnet) erwartet bald ihr zweites Kind. Doch der wortkarge Wildhüter weiß, dass er unheilbar an Krebs erkrankt ist und nur noch ein paar Wochen zu leben hat. Als Natalia davon erfährt, drängt sie ihn, eine Arzt in der Stadt und eine Schamanin in einem schäbigen Container aufzusuchen - beide können Egor nicht helfen. Doch in einem wodkaseligen Gespräch unter vier Augen erzählt ihm die Geistheilerin die alte Sage von einem Erpel, der sich in Kenntnis des nahenden Tods als Ente tarnt. Damit gelingt es, den Sensenmann zu täuschen - der, wenn man den englischen Untertiteln trauen darf, im russischen Original eine Sensenfrau ist. Egor verwandelt sich also in eine stumme Frau, womit er erst Natalia und dann die verständnislose Dorfgemeinschaft gegen sich aufbringt. Als er geschminkt und im kurzem Kleid auf einem Tanzfest auftaucht, wird er verprügelt und aus dem Dorf gejagt. Der vermeintliche Transvestit zieht sich in eine einsame Waldhütte zurück und wird dort abermals überfallen: Schließlich schlägt ihn eine Gruppe Männer halb tot. Doch Natalia sucht ihn in der Hütte auf und versorgt seine Wunden. Als sie mit dem Kind niederkommt, erfährt Egor in der Klinik, dass sein Tumor verschwunden ist.

Zum Filmgespräch in der ausverkauften Seefelder Kino-Lounge stand am Dienstag Produzentin Ekaterina Filipowa zur Verfügung. Sie erzählte, dass Natasha Merkulova in der Taiga aufgewachsen ist und als Kind Kontakt mit Sagenwelt und Schamanismus hatte. Einer oberflächlichen Deutung des Films als Kritik an der Homophobie in Russland widersprach Filipowa: Für die Filmemacher sei weniger ein gesellschaftspolitischer Kommentar im Vordergrund gestanden als die "Heldentat des einsamen Mönchs" im mehrheitlich konservativen Umfeld, das allen Veränderungen feindlich gegenübersteht. "The Man..." sei in Russland "überraschend gut" beim Publikum angekommen und vier Monate in den Kinos gelaufen. Selbst in der ländlichen Provinz sei dieser "radikale Arthouse-Film" meist positiv aufgenommen und verstanden worden: "Wir neigen dazu, die einfachen Menschen zu unterschätzen," meinte Filipowa.

© SZ vom 12.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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