Mitten in Starnberg:Mit der Zweiten sieht man besser

Lesezeit: 1 min

Oder was die Fertiglesebrille alles möglich macht

Von Gerhard Summer

Die deutsche Sprache wäre eine wunderbare Sache, wenn man nicht tagein, tagaus gezwungen wäre, den Eindruck zu erwecken, dass man sie beherrscht. So aber gibt es nur Ärger und Probleme. Allein schon die Grammatik! Die tückische Kommasetzung. Der Umgang mit das und dass! Groß- und Kleinschreibung! Und die mörderische Frage, was nach den Reformen der Rechtschreibreform richtig sein könnte, grundfalsch oder gerade noch durchgeht. Die Werbeleute haben es in diesem Fall leichter, ihnen ist alles recht, was Aufmerksamkeit bringt, und wenn es der schönste Lapsus ist. Eine Zeitlang war das ja mal Mode: Fehler in Texte einzubauen. Dabei kamen dann Kalauer heraus oder Sprüche wie "Besser als wie man denkt" und "Da werden Sie geholfen".

Manchmal gelingt den Textern aber auch Überraschendes, zum Beispiel die "Fertiglesebrille". Dieses ominöse Ding gibt es für vergleichsweise wenig Geld in allen größeren Supermärkten Starnbergs zu kaufen. Es ist so gut in Plastik eingeschweißt, dass man eine Schere und am besten auch eine zweite, schon ausgepackte Brille braucht, um sie benutzen zu können. Was aber bewirkt die Fertiglesebrille? Im Gegensatz zur Bastelbrille, die man erst ausstanzen, schleifen, kleben und zusammenschrauben muss, ermöglicht sie es dem Käufer, jedes Buch, jeden müden Zeitungsartikel und sogar jede dahingeschlampte Gebrauchsanweisung leichthin zu Ende zu lesen. Das ist einerseits eine revolutionäre Sache. Andererseits sehr mühsam, zumal die Fertiglesebrille keine Garantie dafür ist, dass jeder auch versteht, was er studiert. Mehr noch: Wo kämen wir hin, wenn alle Menschen mit solchen Brillen durch die Welt gingen? Wo bliebe der Mut zur Lücke? Das gute Gefühl, dass eine schöne zweizeilige Zusammenfassung vollauf genügen kann? Keiner hätte mehr Zeit, in die Arbeit zu gehen, weil noch so viele Krimis und Essays bis zur letzten Zeile verschlungen werden müssen. Die Welt versänke in Anarchie. Keine Partei würde mehr gewählt, weil die Leute ihr Programm genau studiert hätten und vor Langeweile gestorben wären. Ja, das wäre schlimm. Dabei sind es die wenigsten Texte wert, fertiggelesen zu werden. Manche enden einfach so.

© SZ vom 05.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: