MItten in der Region:Hagelkörner im Bierglas

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Dieses Maiwetter ist eine Beleidigung für die geschundene Corona-Seele

Glosse von ALEXANDER KAPPEN

Seit rund 15 Monaten ist es jetzt schon das alles dominierende Thema - das leidige C-Wort (nein, nicht Cathy Hummels). Jeder redet über Corona, mit allem, was so dran hängt: Sieben-Tage-Inzidenz, Ausgangssperre, Kontaktbeschränkungen, Impfturbo, Testpflicht und so weiter und so fort. Wird Zeit, dass endlich wieder das etwas mehr in den Mittelpunkt rückt, was vor der Pandemie seit Tausenden von Jahren der Gesprächsstoff Nummer eins war: das Wetter.

Das gibt momentan schließlich allerhand Anlass, sich angeregt darüber zu unterhalten, ach was: darüber zu schimpfen! Es ist Frühling. Die Inzidenzzahlen im Landkreis sinken. Man darf wieder in den Biergarten. Tusch! Hurra! Und auf geht's! Oder doch nicht? Ein zweiter, kritischer Blick verrät nämlich: Das mit den sinkenden Inzidenzzahlen und den geöffneten Biergärten stimmt. Das mit dem Frühling sind Fake News. Dass die Temperaturen nicht unbedingt zu ausgiebigen Badeausflügen an die Seen einladen, geschenkt. Aber hey, muss es denn sein, dass man Mitte Mai den Drang verspürt, seine Ski-Klamotten aufzutragen, die im Winter wegen des Lockdowns zum Nichtstun verdammt waren und frustriert irgendwo im Kleiderschrank herumlagen? Das da draußen ist doch kein Wetter, und schon gar kein Frühlingswetter, das ist eine Beleidigung für die geschundene Corona-Seele.

Wie soll man denn jetzt, da man endlich wieder darf, ein richtiges Biergarten-Feeling entwickeln? Erst muss man - das böse C-Wort sind wir ja längst noch nicht los - überhaupt seine Biergartentauglichkeit ertesten, was bei manch sensiblem Gemüt zuweilen mit der Angst verbunden ist, dass ein eifriger Profitester im Ganzkörperkondom einem das dünne Wattestäbchen durch die Nase bis hinten ins Kleinhirn bohrt. Dann muss man beim Wirt seines Vertrauens sein Glück in der Termin-Lotterie versuchen. Und wenn man das große Los zieht, sitzt man bei Sturm und Regen im Garten vor seinem Lieblingslokal und fischt mit den Handschuhen, die wir in weiser Voraussicht noch nicht in die Sommerpause auf dem Dachboden verabschiedet haben, die Hagelkörner aus seinem Bierglas. Dabei ertappt man sich dann beim sehnsüchtigen Gedanken an die gemütliche Lockdown-Couch im wohltemperierten heimischen Wohnzimmer. So weit ist es schon. Danke, Frühling!

© SZ vom 20.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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