Mitten in der Region:Die Motte und das Anthropozän

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Was schwirrt da um die Leselampe? Und warum überhaupt?

Kolumne von Sebastian d'Huc

Mit einem tiefen animalischen Surren, mit einem fast gewalttätig anmutenden Flügelschlag zerschneidet das unidentifizierte Flugobjekt die Luft des Schlafzimmers, angezogen von der Lichtquelle neben dem Sofa. Als das fast faustgroße Wesen eine Leselampenfinsternis auslöst und so einen Schatten über die Brüder Karamasow huschen lässt, ist es mit dem Lesefluss endgültig vorbei, und mit Ekel und morbider Faszination drängt sich die Frage auf, ob man soeben einen kleinen Vogel, eine verwirrte Fledermaus oder doch eine sehr große Motte zu Gesicht bekommen hat.

Der sich einstellende, schnelle Orbit um die lichtabsondernde Glühbirne, wie ein felliger Mond um einen birnenförmigen Planeten, klärt auf, dass es sich um letztere Spezies handelt. Aber warum zieht dieses Ungetüm just um die eigene Leselampe ihre Kreise? Was verspricht sie sich davon? Ein kurzer Abschweifer in die Tiefen des Internets klärt auf, dass Motten als nachtaktive Insekten den Mond benutzen, um sich beim Flug zu orientieren. Da der Mond als kleine Scheibe am Himmel so weit weg ist, dass sich der Winkel, den das Insekt relativ zu ihm einnimmt, beim Fliegen nicht verändert, funktioniert dieses Motten-GPS einwandfrei. Als der Mensch aber begann, künstliches und vor allem kaltes Licht heraufzubeschwören, um seinen Tag zu verlängern, zog er auch die Nachtfalter von ihren gewohnten Bahnen weg und hin in seinen Orbit.

Weil die Lampe so viel näher an der Motte ist, verändert sich mit jeder Flugsekunde der Winkel zu ihr, sodass das Tier stets nachjustieren muss und sogleich eine Kreisbahn beschreibt. Und während man dann im dusteren Zimmer auf seinem Sofa sitzt, das Licht jetzt ausgeschaltet, um den ungebetenen Gast wieder auf das fahle Licht des Erdtrabanten zu fixieren und so loszuwerden, kommt man ins Grübeln. Man muss nicht immer die Tagesschau anmachen, um beim Anblick von Dürre und Eisschmelze den Einfluss des Menschen auf seine Umwelt wahrzunehmen. Unsere Eingriffe in die Umwelt - unabhängig davon, ob man der Meinung ist, dass diese ein Stück weit legitim sind oder nicht - sind unbestreitbar vorhanden und so vielschichtig, klein und groß, sichtbar und unsichtbar, dass manche Forscher bereits fordern, ein neues Erdzeitalter nach uns zu benennen. Das "Anthropozän" wäre die Zeit, in dem der Mensch entscheidend die Form seines Planeten bestimmt hat. Auch wenn die Menschheit längst ausgestorben ist, wird diese geochronologische Epoche unser Vermächtnis sein. Wir wären also gut beraten, sicher zu gehen, dass wir statt einer Umweltkatastrophe ein Vermächtnis schaffen, auf das wir stolz sein können.

© SZ vom 28.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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