Mitten im Landkreis:Psycholinguistik in der Bäckerei

Lesezeit: 1 min

Forscher haben herausgefunden, dass unser Gehirn aus Erfahrung schnell erfast, wann unser Gegenüber ausgeredet hat. Was aber, wenn nach dem erwarteten Schlusspunkt nochmal etwas nachgeschoben wird?

Von Gerhard Wilhelm

Forscher vom Max-Planck-Institut (MPI) für Psycholinguistik im niederländischen Nimwegen haben jetzt herausgefunden, dass die Stille zwischen einem Sprecherwechsel in einem einfachen Gespräch maximal 200 bis 300 Millisekunden dauern darf, damit eine Unterhaltung flüssig klingt. Wird der Zeitraum überschritten, kommt schnell Misstrauen auf. Genauer gesagt, nach 700 Millisekunden Stille. Da kann man sich dann noch so positiv über das Essen äußern - so Recht glaubt es einem das Gegenüber nicht mehr.

Interessant ist in dem Zusammenhang, dass das Gehirn eigentlich viel länger braucht, um Silben, Wörter oder gar einen Satz zu produzieren, nämlich mindestens 600 Millisekunden. Dass man schneller antwortet, als man denkt, liegt vermutlich daran, dass das Gehirn aus Erfahrung vorausdenkt, was der andere wohl sagen wird. Anhand Atmung, Blickrichtung und Betonung lässt sich abschätzen, wann der andere zum Ende kommt. Wenn der Kunde beim Bäcker "Drei Semmeln, zwei Brezen und zwei Croissants" bestellt, ahnt die Verkäuferin schon bei dem "und", dass jetzt nicht mehr viel kommen wird.

Meistens. Aber manchmal braucht das Gehirn seine Zeit. Wie am Samstag beim Bäcker, als die Schlange bis zur Türe reichte. "Zwei Brezn, zwei Semmel und eine Mehrkornsemmel." Das "Und" und die darauf folgende Pause signalisierten der Verkäuferin und den restlichen Wartenden: Fertig. Gerade, als alles eingepackt war, schiebt der Mann noch ein "Und zwei Sesamsemmeln" hinterher. Pause. Alle warten. Die Verkäuferin macht die Tüte ein zweites Mal zu. Da kommt "Und eine Kümmelsemmel". Deutlich ist anhand der Atmung, Blickrichtung und verdrehten Augen der meisten Anwesenden zu sehen, dass ihr Gehirn rast, der Gehirntod wegen Überhitzung kurz bevorsteht. Zum Glück kommt aber gerade noch rechtzeitig aus dem Hinterzimmer eine zweite Verkäuferin. "Wer ist der nächste?" Aufatmen. Abkühlen. Alle Systeme zurück fahren.

© SZ vom 21.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: