Gedenken:Zeit für klare Worte

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Vertreter aus Politik und Gesellschaft erinnern an die Todesmärsche von KZ-Häftlingen im April 1945

Von Kia Ahrndsen und Sabine Bader, Seeshaupt/Starnberg

In zwei Gemeinden haben Menschen am Sonntag und Montag der Ereignisse im April 1945 gedacht.

Die Rolle der Justiz

140 Besucher waren zum Mahnmal in der Seeshaupter Bahnhofstraße gekommen, um an die Befreiung der fast 2000 KZ-Häftlinge aus einem Güterzug zu erinnern. Die Zeit des Nationalsozialismus, so Peter Küspert, Präsident des Oberlandesgerichts München sowie des bayerischen Verfassungsgerichtshofs, sei eine wahrhaft erinnerungsbedürftige Zeit der deutschen Geschichte. Auch heute, wenn von einer "Flüchtlingskrise" die Rede sei, dürfe man nicht vergessen, dass hinter den abstrakten Zahlen immer auch Menschen stehen, deren Menschenwürde Achtung und Respekt verdiene. Ähnlich sei es wohl den Menschen in Seeshaupt im April 1945 gegangen, als sie den aus dem Güterzug befreiten Häftlingen gegenübergestanden seien. Erst in diesem Moment, so Küspert, sei ihnen die Tragweite des Unrechts, von dem sie vorher nur abstrakt gewusst oder geahnt hatten, bewusst geworden. Dieses Unrecht sei aber nicht nur von konkreten Menschen erlitten, sondern auch von konkreten Menschen begangen worden.

In Seeshaupt geht Peter Küspert auf die Rolle der Justiz in der Nazizeit ein. (Foto: Arlet Ulfers)

Als Präsident des Verfassungsgerichtshofs und des Oberlandesgerichts München wolle er an die unrühmliche Rolle der Justiz in dieser Zeit erinnern. Richter seien in ihren Urteilen sogar noch über die berüchtigten "Richterbriefe" des Reichsjustizministers hinausgegangen, Juristen suchten als Hochschullehrer die Legitimität der NS-Gesetze zu begründen, Rechtsanwälte halfen bei der Diskriminierung und Entrechtung der Juden. Juristen wirkten aber auch, so Küspert, an Schlüsselstellen in der Verwaltung im Sinne des NS-Staats. Im Grundgesetz werde in Artikel 20 die Rechtsprechung ausdrücklich an Gesetz und Recht gebunden, um klar zu machen, dass ein Richter, der sich an geschriebene Bestimmungen hält, dennoch Unrecht begehen könne, indem er rechtliche und moralische Grundwerte unbeachtet lasse. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen werde in der bayerischen Verfassung die Würde des Menschen, Frieden, Menschlichkeit und Freiheit schon in der Präambel festgeschrieben. Nur dank der Gewaltenteilung sei heute sichergestellt, dass jeder diese Rechte auch einklagen kann. Reibungen zwischen den Staatsgewalten, so Küspert, zeigten nur, dass die gegenseitige Kontrolle funktioniere. Diese Verantwortung müssten die Juristen wahrnehmen und notfalls auch verteidigen, damit auch künftige Generationen die Werte der Verfassung als selbstverständlich ansehen könnten.

Psalm und Klarinette

Der Ort ist nicht das Entscheidende, man kann so ziemlich überall würdevoll gedenken - auch an einer stark befahrenen Hauptstraße. Das hat eine Gruppe von 70 Bürgern am Sonntagnachmittag unter Beweis gestellt. Während der Ausflugsverkehr neben ihnen an der Starnberger Einfallstraße toste, fanden sie sich am Pilgrim-Mahnmal vor dem Landratsamt ein und erinnerten in einer Feierstunde an den Todesmarsch von Dachau im April 1945 und an das unendliche Leid, das die Nationalsozialisten mit ihren Verbrechen über so viele Menschen gebracht hatten.

In Starnberg stimmt Martina Fischer vor dem Pilgrim-Mahnmal besinnliche Töne auf der Klarinette an. (Foto: Georgine Treybal)

Seit 2012 organisiert Rainer Hange vom "Starnberger Dialog" und vom Verein "Gegen vergessen für Demokratie" die Gedenkveranstaltung bereits. Und "die Vorkommnisse der letzten Zeit zeigen uns engagierten Bürgern im Starnberger Dialog, dass wir mit unseren verschiedenen Gedenkfeiern gegen Antisemitismus und Rassismus richtig liegen", sagte Hange eingangs.

Auch Starnbergs Landrat Karl Roth erinnerte daran, dass sich der Nationalsozialismus vor 80 Jahren ganz "schleichend in Herz und Hirn der Menschen festgesetzt" hatte. "Und heute sind Unmenschlichkeit und Hass auf Zuwanderer und Minderheiten auch wieder auf dem Vormarsch", sagte Roth und verwies darauf, dass ein Blick in andere Länder zeige, wie schnell und unerwartet sicher geglaubte Strukturen wegbrechen können. "Wir müssen gemeinsam darauf achten, dass es nicht so weit kommt", mahnte er die Anwesenden am Mahnmal in Starnberg. Gerade deshalb dürfe man die Geschichte nicht in Vergessenheit geraten lassen. Ebenso sahen es auch Starnbergs Bürgermeisterin Eva John ("Es heißt wachsam sein") und die ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ("Wir brauchen jetzt mehr denn je eine klare Haltung"). Der katholische Stadtpfarrer Andreas Jall und sein evangelischer Amtskollege Stefan Koch erinnerten die Besucher - unter ihnen auch der Philosophie-Professor Jürgen Habermas mit seiner Ehefrau Ute - stets die Opfer im Blick zu haben, auch wenn man über die Täter häufig mehr wisse. Dass gerade die Klarinette für diesen Rahmen ein sehr einfühlsames Instrument ist, stellte Martina Fischer von der Musikschule Starnberg unter Beweis.

Auch der Kantor Nikola David von der liberalen jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München war zur Gedenkstunde nach Starnberg gekommen. Er, der schon als Tenor an einigen Opernhäusern aufgetreten ist, trug mit lauter und eingängiger Stimme den Psalm 16 "Schomreni El" und das Gebet "El male Rachamin" sängerisch vor und sprach das jüdische Heiligungsgebet "Kaddisch".

© SZ vom 02.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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