Spitzenkoch auf Diät:Eine gewichtige Angelegenheit

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Gaël Tatibouet, Spitzenkoch im "Chez Philippe", futterte lange aus Frust. Jetzt hat er radikal abgenommen, fast 100 Kilogramm verloren - und ist dadurch ein anderer Mensch geworden.

Astrid Becker

Bislang hat sich Gaël Tatibouet nie für Fußball interessiert. Doch plötzlich wünscht er sich ein ganz bestimmte Begegnung bei der Europameisterschaft: Deutschland gegen Frankreich. Am liebsten im Endspiel, sagt er. Und diese Aussage ist verwunderlich, wenn man dem gerade noch 41-jährigen Koch schon früher begegnet ist.

""Ich habe wieder Lust auf alles: auf meine Arbeit, auf Leben", sagt Gaël Tatibouet. Der Koch wog 210 Kilogramm - wegen des Übergewichts bekam er Depressionen und aß noch mehr. Jetzt hat er radikal abgenommen. (Foto: Stephan Rumpf)

Diese Sportbegeisterung ist nur ein Detail, ein kleiner Hinweis auf eine, im wahrsten Sinne des Wortes, gewichtige Änderung im Leben dieses Mannes: Denn Gaël Tatibouet hat fast 100 Kilogramm abgenommen - und ist dadurch ein anderer Mensch geworden.

Es ist ein langer Leidensweg, den der Koch eines der ältesten französischen Restaurants der Stadt, "Chez Philippe", beschritten hat. Um Tatibouets Geschichte zu verstehen, muss man an seine Ursprünge zurückgehen. In den Senegal, wo er 1970 geboren wurde, genauer gesagt in Dakar.

Sein Vater, gebürtiger Bretone, war in den 50er Jahren als Orthopäde für das französische Militär nach Afrika geschickt worden, seine Mutter, die aus der Gegend von Paris stammte, war ihm mit Gaëls 15 Jahre älterer Schwester Sylvie gefolgt. Als seine Mutter noch einmal schwanger wurde, sei das eine Überraschung gewesen, "ich war gar nicht geplant", sagt er.

Vielleicht blieb dies nicht ohne Folgen, denn die Beziehung zu seiner Mutter beschreibt Gaël Tatibouet als schlecht. "Sie war sehr kühl, ich fühlte mich von ihr nicht so geliebt, wie ich es gebraucht hätte." Mit Kindern habe sie wohl nicht gut umgehen können, erst später, als seine Schwester selbst eine Tochter hatte: "Zu meiner Nichte war sie so lieb, dass ich regelrecht eifersüchtig wurde."

Bereits mit 14 übergewichtig

Schon früh beginnt er seinen Frust mit Essen abzubauen. Im Alter von 14 Jahren ist er bereits übergewichtig, sehr schüchtern und introvertiert - und seine schulischen Leistungen lassen zu wünschen übrig. Irgendwann kann seine Schwester das nicht mehr mit ansehen und holt ihn zu sich nach Frankreich, wo sie mittlerweile lebt.

Es trifft Gaël Tatibouet tief, seine Heimat verlassen zu müssen. Alles in Frankreich sei so anders gewesen als im Senegal, sagt er heute: das Wetter, die Mentalität der Menschen. Doch der Umzug sollte sich auch als Glücksfall erweisen, denn "meiner Schwester ist es gelungen, mich wieder auf Vordermann zu bringen - gewichtsmäßig und schulisch."

Mit 16 Jahren besteht er die Aufnahmeprüfung für eine der renommiertesten privaten Hotelfachschulen, dem Lycée des métiers Sainte-Anne in der Bretagne. Er absolviert sie mit Bravour, beginnt zunächst in Frankreich zu arbeiten, wo er auch zum Militär eingezogen wird.

Anfang 1991 beginnt er in Ottobrunn im "La Cassolette" zu arbeiten, einem Bistro, das zu dieser Zeit dem Tantris-Eigentümer Fritz Eichbauer gehörte. Über einen Freund lernt er Philippe Lelodey kennen, der sich gerade zwei Jahre zuvor mit seinem "Chez Philippe", damals noch in der Holzstraße, selbstständig gemacht hatte und dringend einen Koch suchte. Die beiden werden handelseinig - und auch beste Freunde. Sowohl das Arbeitsverhältnis als auch die Freundschaft sollten in den Folgejahren viele Bewährungsproben bestehen.

Denn Gaël Tatibouet leidet zu dieser Zeit schon längst wieder unter schweren Gewichtsproblemen. Es ist die Einsamkeit und jede Art von Problemen, die ihn Nacht für Nacht an den Kühlschrank treiben: "Ich war ein absoluter Frustfresser." Wenn er nach der Arbeit nach Hause kam, gab es erst einmal Pizza, Chips und literweise süße Getränke. "Cola, Fanta - da war ich süchtig danach."

Das zunehmende Gewicht verursacht schwere Depressionen bei Gaël Tatibouet, die er mit noch mehr Essen zu bekämpfen versucht. "Es war ein Teufelskreis." Sein Arbeitgeber und Freund Lelodey redet ihm ins Gewissen - und Tatibouet beginnt mit einer Psychotherapie. Doch auch sie bringt ihn nicht weiter, es folgt ein neuer Depressionsschub, gepaart mit noch mehr Essen. Bei einer Größe von 1,80 Metern wiegt er 210 Kilogramm.

Irgendwann ist er so am Ende, das er sich 2010 eine neue Psychotherapeutin sucht: "Sie sagte: ,Sie haben nur eine Chance: Sie müssen sich operieren lassen.'" Ende Juni 2010 hat er den ersten Termin beim Chirurgen. Es folgen aufwendige Untersuchungen und umfangreiche Anträge bei der Krankenkasse auf Kostenübernahme. "Es muss ja exakt begründet werden, warum man bei einem gesunden Menschen einen Angriff auf gesundes Gewebe unternimmt."

Denn die Operation, von der er spricht, besteht nicht aus einem Eingriff, sondern in Wahrheit aus mindestens drei Operationen. Die erste lässt Gaël Tatibouet im Mai 2011 vornehmen. Dabei setzen ihm die Ärzte einen sogenannten Magenballon ein, der mit Flüssigkeit gefüllt ist und somit "Platz wegnimmt, damit weniger reinpasst", wie Tatibouet sagt.

"Mit mir durch dick und dünn gegangen"

Eine Operation, die als Vorbereitung für die eigentliche Magenverkleinerung dient, die spätestens nach sechs Monaten erfolgen sollte. Bis dahin nimmt der Koch rund 20 Kilo ab: "Das war zu wenig für meine Erwartungen", sagt er über diese Zeit. Es folgt eine grausame Zeit - auch für seinen Chef Philippe Lelodey. Denn Tatibouet wird unzuverlässig, steht plötzlich nicht mehr als Arbeitskraft zur Verfügung.

Lelodey sucht verzweifelt nach einem Ersatz, doch es ist August, Ferienzeit: Lelodey muss sein Lokal für drei Wochen zusperren. Doch er hält zu seinem Koch. "Philippe ist im wahrsten Sinne des Wortes mit mir durch dick und dünn gegangen", sagt Tatibouet. Die zweite Operation zeigt endlich die erwünschte Wirkung. Tatibouet nimmt ab. Er muss sich streng an die ihm von den Ärzten vorgeschriebene Kost halten.

Der Koch merkt schnell, wie ernst die Vorgaben gemeint sind: Denn befolgt er sie nicht, wird ihm speiübel, und er muss wieder von vorne anfangen, das richtige Essen zu lernen. Erst nach etwa zwei Monaten darf er sich annähernd normal ernähren, das heißt: drei Mahlzeiten am Tag mit viel Eiweiß und wenig Kohlenhydraten, also auch wenig Süßem. "Ich muss immer erst mit dem Eiweiß beginnen und alles gut kauen, denn das ist bereits die Vorverdauung. Viele vergessen das und schlingen - den Fehler habe ich viele Jahre lang gemacht, jetzt nicht mehr."

Dann strahlt er über das ganze Gesicht. Kein Wunder, fast 100 Kilogramm hat er mittlerweile abgenommen: 111 Kilo zeigt seine Waage derzeit an. Wie viel er noch abnehmen will? Egal, sagt er. "Vielleicht zehn, vielleicht 15? Was ist das schon? Für mich ein Klacks", sagt er und klingt dabei ungewohnt selbstbewusst. Angst vor einem Rückfall kennt er nicht mehr: "Der Teufelskreis ist endlich durchbrochen."

Dann springt er auf. Der für den Restaurantgarten bestellte Pavillon trifft ein, er will mithelfen, ihn aufzustellen. "Für unser kleines Public-Viewing", sagt er: "Dafür habe ich sogar ein spezielles EM-Menü kreiert." Denn vielleicht werde es sie ja doch noch geben, seine Wunschpartie. Deutschland gegen Frankreich. "Ich habe wieder Lust auf alles: auf meine Arbeit, auf Leben", sagt er und grinst: "Jetzt fehlen mir nur noch die Frauen." Aber auch das wird sich ändern. Ganz bestimmt.

© SZ vom 11.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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