Risiken im Vergleich:Wo die größte Gefahr lauert

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Wenn ich mir den jäh abgebrochenen Lebensplan eines jeden einzelnen Menschen und das Leid seiner Angehörigen vorstelle, erscheint es mir auf den ersten Blick zynisch, verschiedene Gruppen von Opfern eines gewaltsamen Todes zu vergleichen, zumal ja in verschiedenen Gruppen auch verschiedene (vorher nicht bekannte) Individuen sterben. Trotzdem bin ich der Überzeugung, dass Ereignisse, die in der Summe mehr Tote zur Folge haben, schlimmer sind und noch größere Mühen zu ihrer Verhinderung erfordern, als solche mit weniger Opfern.

Natürlich erscheinen Großschadensereignisse, zumal in der Nähe, erst einmal schrecklicher, die Schlagzeilen (auch der SZ) sind größer, unsere (auch meine) Sensationsgier und unsere gruselig-erschaudernde Anteilnahme werden angeheizt und Politiker zeigen öffentliche Betroffenheit, ja sagen sogar ihre politischen Aschermittwoche ab. Täglich(!) sterben auf Deutschlands Straßen im Schnitt fast genauso viele Menschen wie beim Zugunglück bei Bad Aibling. Das individuelle Leid ist dabei vergleichbar, weshalb unsere Politiker also übers Jahr gerechnet 365 Mal Grund hätten, ihre populistischen Politstammtische abzusagen. Oder wäre es nicht überhaupt besser, den politischen Gegner grundsätzlich mit Respekt zu behandeln? Dann müsste sich niemand schämen, wenn traurige Ereignisse dazwischenkommen, und es könnte ernsthaft diskutiert werden, wie durch verkehrspolitische, technische, erzieherische, polizeiliche et cetera Maßnahmen die weitaus größere Opferzahl im Straßenverkehr zukünftig verringert werden kann.

Am 25. März 2015 meldete die SZ auf der ersten Seite in großer Aufmachung den Flugzeugabsturz mit 150 Toten, den der Copilot in selbstmörderischer Absicht herbeigeführt hatte. Auf der Seite 10 derselben SZ findet sich die kleine Meldung, dass täglich(!) auf Europas Straßen 70 Menschen (über 25 000 pro Jahr) sterben. Wie viele Opfer von selbstmörderischem Verhalten (im weiteren und engeren Sinn) sich wohl unter den circa 23 000 Verkehrsopfern befinden, die seit jenem Flugzeugabsturz inzwischen zu beklagen sind?

Seit der Wiedervereinigung verloren auf Deutschlands Straßen circa 170 000 Menschen im Straßenverkehr ihr Leben. In derselben Zeit starben in Deutschland über 140 Menschen durch Morde mit rechtsradikalem Hintergrund (zusätzlich eine Dunkelziffer von bis zu 650 weiteren Opfern) und zwei Menschen durch islamistischen Terror.

In unserer Angst vor Katastrophen und Terror übersehen wir die weitaus größte Gefahr: im Alltag unterwegs zu sein auf unseren Straßen. Dr. Josef Noderer, München

© SZ vom 23.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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