Rettung vor der SS:Im Angesicht des Ungeheuers

Lesezeit: 3 min

Sie hat bei Heinrich Himmler vorgesprochen, um ihren Mann aus dem KZ zu befreien: Die Widerstandskämpferin Lina Haag feiert heute in München 100. Geburtstag. Ein Portrait über eine Frau, deren Mut nie gebrochen wurde.

Felicitas Amler

Sie saß ihm persönlich gegenüber. Ihm: "Dem Ungeheuer". Im Nachhinein denkt sie: "Vielleicht sieht ein mittelmäßiger Buchhalter so aus."

Lina Haag meint Heinrich Himmler, den sie vor 67 Jahren traf: die Widerstandskämpferin den "Reichsführer SS". Die verfolgte Kommunistin den mörderischen Nazi. Die Ohnmächtige den Machthaber. Die Liebende den Zerstörer.

Die Szene liegt 67 Jahre zurück. Lina Haag, die heute in München ihren 100. Geburtstag feiert, hat damals bei Heinrich Himmler vorgesprochen. Sie wollte ihren Mann wiederbekommen. Sie bat ihn darum, Alfred Haag, den ehemals jüngsten KPD-Abgeordneten im Stuttgarter Landtag, aus dem Konzentrationslager zu entlassen.

"Wir Kommunisten sind nicht das Gesindel, für das man uns hält"

Schnörkellos und unerschrocken bekannte sie auf Nachfrage: Ja, auch sie sei Kommunistin. Und nach einem "Ehrlich sind Sie, das muss man Ihnen lassen" von Himmler spricht sie weiter: "Wir sind genauso ehrlich und anständig wie die andern! Wir Kommunisten sind nicht das Gesindel, für das man uns hält."

Sie redet - "wie betrunken" und "wie mit Engelszungen". Und hat Erfolg. Himmler zeigt sich beeindruckt. Alfred Haag wird aus dem Konzentrationslager Mauthausen entlassen.

Die Leute täten immer so, als sei das etwas Unglaubliches, dass sie damals zu Himmler gegangen sei. "Aber es war keine Sensation", sagt die Hundertjährige. Sondern? "Es ging um einen Menschen, den man liebt, und der es wert ist, dass man sich für ihn einsetzt."

Lina Haag hat ihren Auftritt bei Himmler und alles andere, was sie während der Nazi-Diktatur erlebt und erlitten hat, 1944 notiert - in der literarischen Form von Briefen an ihren Mann. Es ist eine der unglaublichsten Erzählungen einer Zeitzeugin des NS-Terrors und eine zutiefst berührende Liebesgeschichte, Krimi und Geschichtsbuch in einem.

"Es sind Spießbürger"

Als Heilgymnastin im Lazarett in Riessersee schreibt die 37-Jährige von der eigenen Gefangenschaft in Einzelzelle und Dunkelhaft, von der Verzweiflung und entsetzlichen Ängsten, aber eben auch von Mut und Widerstandskraft: "Tapfer ist nur der Sensible, der Mensch, dessen Phantasie die ganze Tragweite einer Gefahr zu erkennen vermag und der trotzdem standhält."

Auch ihre Gedanken über die Täter hält die junge Frau, ältestes Kind einer Arbeiterfamilie aus Schwäbisch Gmünd, fest: "Sind es wirklich Sadisten, Verbrecher von Grund auf, Mörder?", fragt sie sich.

"Es sind Spießbürger. Nur sind sie zufällig nicht beim Finanzamt, sondern bei der Polizei, zufällig keine Magistratsschreiber oder Metzgermeister oder Kanzleigehilfen oder Bauarbeiter oder Standesbeamte, sondern Gestapoangestellte und SS-Männer."

Sie rotteten ihre Feinde aus, urteilt Lina Haag, "mit derselben sturen Pedanterie, mit demselben deutschen Fleiß und mit derselben deutschen Gründlichkeit, mit der sie sonst Steuererklärungen geprüft oder Protokolle geschrieben oder Schweine geschlachtet hätten".

Das Wunder einer unbeirrbaren Liebe

Im Jahr 1947 werden Lina Haags Briefe an ihren Mann Alfred unter dem Titel "Eine Handvoll Staub" veröffentlicht. Das Buch ist eines der ersten publizierten Dokumente über den deutschen Widerstand. Oskar Maria Graf schrieb darüber: "Es schwingt im Lesenden nach wie ein innerstes Beben (. . .), und es erweckt wieder den Glauben an das Menschlichste in uns allen, an das Wunder einer unbeirrbaren Liebe."

Barbara Distel, Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, sieht in Lina Haags Vordringen zu Himmler "ein einmaliges Vorkommnis", das "sicherlich der historisch bedeutsamste Aspekt ihres Buches" sei.

Verfilmt wurde die spektakuläre Szene nie. Da hätte Lina Haag nicht mitgemacht. Oft seien Anfragen gekommen, "auch aus Amerika", erzählt sie. Doch sie habe das immer abgelehnt: "Man kann das im Film nicht darstellen: diese innerliche Angst, die der Himmler nicht spüren durfte. Diese Anstrengung - die kann man einem anderen nicht sagen."

Sie meint damit wohl, ein anderer könne es nicht verstehen. Denn sagen kann man es schon - wenn man es selbst erlebt hat. Lina Haag hat früher oft vor jungen Leuten, in Unterrichtsstunden, Lesungen, Interviews und Hörfunksendungen Zeugnis gegeben vom Kampf gegen die Nazi-Diktatur. Sie, "die Davongekommene", hatte eine Botschaft: "Man muss sich empören gegen Unrecht und Gewalt."

Die Hoffnung nie aufgegeben

Das sieht sie heute noch so. Mit hundert, sagt sie, da könne sie zwar nicht mehr so agieren wie früher: "Aber der Kopf ist noch klar." Und der denkt, was er immer dachte: "Man muss an allem, was in der Welt passiert, ein kritisches Interesse haben." Noch vor fünf Jahren hat Lina Haag einen Aufruf ehemaliger Nazi-Verfolgter mit unterzeichnet:

"Beherzigt die Lehren des 8. Mai 1945!" Darin erinnerten vier Dutzend Männer und Frauen, unter ihnen Inge Aicher-Scholl und der vor kurzem ebenfalls 100 Jahre alt gewordene Erwin Geschonnek, an das Bekenntnis "Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!", prangerten neuen Rechtsextremismus an und erklärten, wie unvorstellbar es nach der Befreiung gewesen sei, "dass deutsche Soldaten jemals wieder in fremden Ländern marschieren und schießen würden".

Sie habe jedenfalls die Hoffnung nicht aufgegeben, sagt Lina Haag heute: "Ich versuche trotz meines hohen Alters nicht den Glauben zu verlieren, dass der Weg der Menschheit zu einer weltweiten Humanität führen wird." Sie selbst habe keine Kraft mehr, sich parteipolitisch zu engagieren, sie sei in keiner Partei. "Ich bin Humanistin."

Das Wichtigste, das sage sie auch ihrer 16-jährigen Urenkelin, sei es, "kritisch denken zu lernen". Allerdings: Kämpfen, das müssten die jungen Leute heute schon selbst: "Wir haben uns ja auch gewehrt."

© SZ vom 18.1.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: