Radeln in München:Mit der Kraft der zwei Wadeln

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Fahrradkuriere radeln bis zu 70 Kilometer in einer Schicht - doch die Zeit der täglichen Raserei ist vorbei.

Christian Mayer

Noch eine Sekunde bis Grün. Der Mann mit den kurzen Hosen und der orangefarbenen Plastiktasche tritt in die Pedale, überholt einen Lastwagen und schlängelt sich geschickt durch ein Nadelöhr aus Autos und Baustellensperren - noch während die Ampel umschaltet.

Dirk von Mallinckrodt leistet Präzisionsarbeit. Jeder Zentimeter zählt, wenn er an Blech, Chrom und Seitenspiegeln vorbeizieht, ohne die teuren Karossen zu berühren. Nach fünf Sekunden gehört die Thalkirchner Straße ihm allein, dem Boten auf dem schwarzen Bike.

Eigentlich fährt der 35-Jährige gar nicht sonderlich schnell, von den ruckartigen Starts mal abgesehen. Denkt man jedenfalls, wenn man den Fahrradkurier auf seinem Zickzackkurs durch die Stadt ein paar Stunden lang begleitet.

Es geht los im Tempo ambitionierter Freizeitfahrer: vom Sendlinger Büro "Transpedal" in der Alramstraße bis zu einem Zahntechniker in die Maxvorstadt, dann nach Bogenhausen, wieder zurück zum Isartor zu einer Produktionsfirma und so weiter. Spätestens am Giesinger Berg rinnen einem die Schweißtropfen in die Augen, während der Vordermann die Anhöhe locker wegsteckt wie Lance Armstrong den Col du la Madeleine.

Dirk von Mallinckrodt ist einer von mehr als hundert Fahrradkurieren in München. Und einer der erfahrensten, schließlich macht er diese Arbeit schon seit 1997 - fünf Mal die Woche, fünfzig Wochen im Jahr, in denen er im Schnitt fünf Fahrradmäntel verschleißt. "Der Job ist gefällt mir", sagt er, "besonders im Frühling und Herbst, wenn sich die Stadt im Farbenspiel der Bäume verändert."

Der Autofahrer ist unser natürlicher Feind

Aber es gibt auch Tage, an denen ihm Regen und Wind ins Gesicht peitschen und er völlig durchnässt gegen rücksichtslose Motoristen ankämpft, die ihm den Rest geben. Ob er die Autos hasst, die ihn oft in die Enge treiben? "Der Autofahrer ist unser natürlicher Feind." Er stockt und spricht leise weiter. "Weil er es ist, der dir Verletzungen zufügen kann." Es gibt ein paar Straßen in München, die Mallinckrodt hasst. Am meisten die Gabelsberger: "Da rasen die Autos mit 60, 70 Sachen durch, weil es kaum Ampeln gibt. Ein Wahnsinn".

Mallinckroth hat viel Glück gehabt in den vergangenen Jahren - oder vielleicht auch nur eine gute Reaktionsfähigkeit. Das Risiko, sich auf der Straße zu verletzen, ist allgegenwärtig.

Deshalb müssen die Kuriere eine spezielle Berufshaftpflicht-Versicherung abschließen. "Bei meiner alten Agentur gab es regelmäßig Unfälle. Jetzt ist das anders: Von meinem Chef geht eine Ruhe aus, die sich auch auf die Kuriere überträgt."

Demonstrative Gelassenheit

Der Chef, Günter Hofer, sitzt an Vormittagen wie diesem in seinem Büro und koordiniert die Fahrwege und Aufträge seiner 40 freien Mitarbeiter. Er kann die latenten Ängste seiner Leute gut nachvollziehen: Vor acht Jahren hat der Gründer und Geschäftsführer von "Transpedal" einen seiner Mitarbeiter verloren. Bei einem Unfall mit einem Pkw, den der Kurier selbst verschuldet hatte.

Hofner redet ungern darüber, es hat lange gedauert, bis er darüber hinweg war. "Schädelhirntrauma. Der Mann war sofort tot." Danach hat der "Transpedal"-Chef die Helmpflicht eingeführt, musste sie aber bald wieder abschaffen, weil er seinen 40 freien Mitarbeitern keine Dienstvorschriften machen darf.

Jetzt kann er sie nur zur Vorsicht ermahnen und ihnen immer wieder einschärfen: "Es reicht auch ein lockeres Joggertempo." Die demonstrative Ruhe scheint zu wirken, in den vergangenen Jahren gab es kaum Unfälle, nur Kratzer an parkenden Fahrzeugen; aber das zahlt die Versicherung. Zuletzt ist ein Kurier in eine Baugrube gestürzt. Er kam mit Schürf- und Platzwunden davon.

Gezähmte Asphaltcowboys

Weiter geht die Fahrt, diesmal durch die Prinzregentenstraße Richtung Zentrum. Kurz vor dem Friedensengel hält ein Bus, der Kurier bremst abrupt. Richtig getippt: Eine alte Dame steigt gemächlich aus und spaziert im Zeitlupentempo über den Radweg. Mallinckrodt wartet geduldig, "sonst läuft die mir in die Speichen." Seltsam. Stehen Fahrradkuriere nicht im Ruf von Asphaltcowboys, die auf Verkehrsregeln pfeifen?

Na gut, ein Kavalier der Straße ist der Kurier auch wieder nicht immer und überall. Auf die Frage, ob er gelegentlich mal eine rote Ampel "übersieht", antwortet er mit einem Lächeln. "Ich krieg' ein, zwei Mal im Jahr einen Strafzettel, das ist alles. Weil ich aufpasse."

Die Raserei ist ein Verlustgeschäft

Ob gerade eine Streife in Sicht ist, müsste man jetzt ergänzen. Und wenn er tatsächlich gestoppt wird? "Lieber alles gleich zugeben, dann kommt man billiger davon." Im Grunde sei die Raserei sowieso ein Verlustgeschäft. Und schneller ist man auch nicht, wenn man voll auf Risiko geht und ständig gegen die Uhr anfährt: "Früher hab' ich das gemacht. Bis mir ein alter Mann beim Vorbeifahren mit der Faust ins Kreuz geschlagen hat."

Manch ein Autofahrer rastete aus, wenn ihnen der Typ mit dem schwarzen Bike die Vorfahrt nahm. Muss alles nicht mehr sein, mit 35. Heute fährt Mallinckrodt auf Nummer sicher. Nur mit dem Fahrradhelm hat er seine Probleme, den trägt er nur, wenn er gerade Lust hat. Heute hat er keine.

Kurz vor dem Haus der Kunst reißt Mallinckroth das Lenkrad seines selbst zusammengebauten Bikes abrupt um neunzig Grad nach links, überquert die vierspurige Straße, als für einen Augenblick keine Autokolonnen heranrollen, und biegt ins Lehel ein - fast hätte er den keuchenden Verfolger abgeschüttelt.

"Immer noch da?", fragt er schelmisch. Klar, aber wie wär's denn mit einer Trinkpause? Keine Zeit, bis zur Mittagspause wird durchgeradelt. Der nächste Auftrag ist gerade über Funk eingegangen.

70 Euro in sechs Stunden

Sechs Stunden ist Mallinckrodt jetzt unterwegs. Verdienst: 70 Euro. Ein durchschnittlicher Tag, nicht sonderlich gut, nicht sonderlich schlecht. "Vor ein, zwei Jahren war um diese Uhrzeit viel mehr los. Wir mussten von einem Start-up-Unternehmen zum nächsten rasen", erzählt er.

München boomte, die Film- und Fernsehbranche hatte enormen Bedarf an Fahrradboten. Mallinckrodt musste oft ein halbes Dutzend Umschläge gleichzeitig ausliefern. Sein Vier-Kilo-Rucksack war prall gefüllt, und abends musste sich der schlanke 80-Kilo-Mann mit drei Tellern Pasta wieder aufpäppeln und Kohlehydrate schaufeln.

Dass sich die New Economy dann als Seifenblase erwies und viele Firmen aus der Medien- und Internetbranche dicht machen mussten, bekamen vor allem die Fahrradkuriere sofort zu spüren. Auf einmal gab es weniger Verträge, Videokassetten oder Verlagsbroschüren, die eben mal schnell von Schwabing nach Unterföhring befördert werden mussten.

"Ich merk' das am Monatsverdienst." Bis zu 5000 Mark im Monat konnte er in den Glanzzeiten des Neuen Marktes verdienen - brutto. Auch für die Kurierdienste werde die Arbeit knapp, bestätigt Günter Hofner. Reichtümer könne man in dieser Branche ohnehin nicht verdienen, für drei Kilometer Transportweg bekommt die Agentur "Transpedal" acht Euro von den Auftraggebern.

Zwei Drittel der Honorare streichen die Fahrer ein; der Rest geht größtenteils für Versicherungen und Miete drauf. Viel Gewinn bleibt da nicht übrig.

Die Romantik ist weg

Immerhin, die Auftragslage reicht noch für vier, fünf Fahrradkurierdienste in München. Dirk von Mallinckrodt will den Job trotzdem nicht mehr lange machen - obwohl einige hartgesottene Kollegen auch mit 47 noch unterwegs sind.

Mallinckrodt träumt von der Filmbranche und einer Arbeit als Kameramann. "Bald ist Schluss mit Radeln", sagt er. Wie ein Held der Großstadt fühlt er sich schon lange nicht mehr. Das war einmal: Als er anfing, sich für 30 Mark am Tag den Arsch aufzureißen.

Seine alte Agentur hatte viel zu viele Fahrer angeheuert, außerdem gab es diesen ständigen Druck von oben, schnell ans Ziel zu kommen. "Weil der Lohn so miserabel war, haben wir unsere Arbeit richtig glorifiziert. Das war die einzige Chance, das auszuhalten."

Und heute? Die Romantik ist weg, die Gänsehaut bei Tempo 40 auch. Es gibt wichtigere Dinge für einen Fahrradkurier am Ende seiner Karriere. Geld verdienen, zum Beispiel. Und gesund bleiben, das vor allem.

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