Psychologie der Rolltreppe:Links gehen ist überholt

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Jeder kennt es: Die U-Bahn steht schon da, könnte sie noch erreichen - aber man verpasst sie, weil die Rolltreppe verstopft ist. Auch auf der linken Spur. Eine Rolltreppenkunde.

Philipp Crone

Nur wer schnell ist, muss nicht warten: Sendlinger Tor, am frühen Abend im Untergeschoss. Die Türen der U2 klacken auf, und ein Menschenstrom aus Hunderten Weihnachtseinkäufern ergießt sich zu den zwei Rolltreppen, die hoch zur U3 und U6 führen.

Die Rolltreppe am Münchner U-Bahnhof Marienplatz. (Foto: Foto: Haas)

Stau am Treppenzugang, viele stehen rechts, manche auch auf der linken Treppenseite, andere versperren mit ihren Plastiktüten oder Köfferchen den Weg.

Anschluss verpasst

Es gibt kein Vorbeikommen. In gefühltem Schneckentempo (in Wahrheit mit rasenden 0,5 Meter pro Sekunde) muss man die Rolltreppe hoch warten. Murphy's Law (,,Was schief gehen kann, geht schief'') bestätigt sich auf den letzten Metern: Die U3 steht noch für einen Moment, dann piepen die Türen. Anschluss verpasst.

Das sind Momente, in denen man sich fragt: Warum können diese Rolltreppen nicht schneller fahren? Oder wenigstens so breit sein, dass der eilende Linkstreppensteiger auf jeden Fall vorbei und noch in seine U-Bahn kommt? Und warum gibt es immer noch Münchner - oder sind das alles Touristen? - die das erste ungeschriebene Rolltreppengesetz nicht kennen: Links gehen, rechts stehen.

Außerdem sind doch (siehe Murphy) immer dann Rolltreppen in Wartung, wenn es schnell gehen müsste. Und eine außerbetriebliche Rolltreppe zu besteigen, ist auch noch viel anstrengender als eine normale Steintreppe. Das bestätigt auch die Psychologie, aber dazu später.

Die Breite folgt der Sicherheit

Die europäische Norm EN 115 definiert die ,,maximal erlaubte Stufenbreite'' auf 110 Zentimeter. Laut Thomas Kausel, Entwicklungsleiter Fahrtreppen der Firma Schindler, ist eine Breite von einem Meter ,,der optimale Kompromiss zwischen möglichst hohem Fahrkomfort und minimalen Außenmaßen der Maschine''.

Weltweit sind Rolltreppen so breit wie in München, sagt Kausel. Das hat Sicherheitsgründe. Denn jeder Rolltreppler muss sich an den seitlichen Geländern festhalten können. ,,Wären die Stufen breiter, würden sich drei Personen auf eine Stufe stellen. Die in der Mitte könnten sich bei einem Nothalt nicht festhalten und würden stürzen.''

München fährt gemütlich

Die Norm EN 115 regelt auch die Geschwindigkeit der Treppen. Sie dürfen höchstens mit 0,75 Meter pro Sekunde rollen. In Hongkong und Moskau tun sie das auch. In München nicht.

Denn dafür wären ,,zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen nötig, die mehr Platz bräuchten'', sagt Kausel. Je schneller eine Rolltreppe fährt, desto länger müssen die sogenannten ,,Übergangsbereiche'' sein.

Das sind die Bereiche am Anfang und Ende einer Rolltreppe, bei denen die Stufen waagerecht fahren. Deshalb fährt München lieber gemütlich mit 0,5 Meter pro Sekunde und Übergangsbereichen von nur zwei Stufen.

Auf der längsten Münchner Treppe - am Stachus, Ausgang Lenbachplatz, 56 Meter lang - braucht man auf der rechten Seite daher fast zwei Minuten bis nach oben.

Wenn schon Maße und Tempo festgelegt sind, muss auf der linken Spur selbst Fuß anlegen, wer zügiger steigen will. Links sollte es eigentlich schneller gehen.

Gerade jetzt zur Weihnachtszeit ist das aber oft anders. Auf der Treppe von der U2 zur U3 am Sendlinger Tor stehen ratschende Pärchen nebeneinander, und Plastiktüten ragen auf die linke Seite hinaus.

Durch das Gehen steigt die Unfallgefahr

Zur Feierabendzeit sind oft alle Stufen doppelt besetzt. Am Münchner Flughafen sind an den horizontalen Fahrtreppen deshalb extra Piktogramme aufgestellt, auf denen ein links gehendes und rechts stehendes Strichmännchen zu sehen ist. Wäre das nicht auch eine gute Idee für die U-Bahn?

Nein, sagt die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG). Die Links-Gehen-Regel gebe es schon länger nicht mehr. ,,Denn durch das Gehen steigt die Unfallgefahr auf der Treppe, und sie wird auch noch einseitig belastet'', sagt Christian Miehling, Sprecher der MVG.

Außerdem können die Treppen mehr Menschen befördern, wenn auf beiden Seiten gestanden wird. ,,Dann entstehen keine Schlangen vor der rechten Standspur.''

Solange die Treppen rollen, geht es ja noch - wenn auch dezent - vorwärts. Laut MVG sind nur drei Prozent der 740 Münchner Rolltreppen nicht in Betrieb, werden gewartet oder repariert. Im Winter steigen die Ausfallzahlen durch Rollsplitt.

Der wird von den Straßen in die Maschinen getragen und aktiviert das automatische Sicherheitssystem - die Treppe bleibt stehen. In solch einem Fall müssen alle gehen, auch die notorischen Links-Steher.

Und es ist anstrengender, eine streikende Rolltreppe zu besteigen als eine Steintreppe. Das liegt zum einen an der Physik: Aus Platzgründen sind Rolltreppenstufen höher als die einer normalen Treppe.

Wer sie sieht, will fahren

Zum anderen liegt es an der Psychologie: Wer auf eine Rolltreppe zugeht, erwartet, dass er gleich transportiert wird. Wird er enttäuscht, ist die Anstrengung subjektiv größer. Der Fachmann nennt das ,,Affordanz''.

Der Kölner Psychologe Lothar Linz erklärt: ,,Affordanz bedeutet in der Psychologie, dass man von der Umwelt zu einer Handlung aufgefordert wird. Sieht man etwa ein kleines Mäuerchen, fühlt man sich aufgefordert sich dort hinzusetzen.'' Die Rolltreppe weckt eben die Erwartung, gefahren zu werden.

Am Sendlinger Tor rollen die Treppen, und die Standzeit auf der rechten Seite ist auch nicht allzu lang: 28 Sekunden muss man stehen - für die U3 zu lang.

Steigend auf einer freien linken Spur hätte man sie erreicht, so sieht man sie nur noch abfahren. Dieses Bild bewirkt auch eine Affordanz: die, sich zu ärgern.

© SZ vom 14.12.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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