Psychische Krankheiten:"Etikettiert Dosen statt Menschen"

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Von der Erfahrung, ausgegrenzt zu werden, können viele psychisch Kranke berichten. (Foto: iStockphoto)

Ein Drittel der Deutschen leidet an einer psychischen Erkrankung. Wer das aber offen sagt, wird oft abgestempelt und ausgegrenzt - und das macht ihn noch kränker. Nun gehen Betroffene und Ärzte auf die Straße, um sich gegen diese Stigmatisierung zu wehren.

Von Stefan Mühleisen

Schau dich doch an, du Versager. Du bist selber schuld, weil du charakterschwach und faul bist. Die Stimme wird brüchig, Helga Müller schaut traurig zu Boden. So reden sie, die vermeintlich Gesunden: Gefährliche Irre seid ihr, mit euch will ich nichts zu tun haben.

Die 51-jährige Bürokauffrau schweigt, das ganze Thema wühlt sie auf. Doch dann wird der Blick fest, die Stimme bebt. "Schaut euch doch selber an", sagt sie selbstbewusst. "Ihr dröhnt euch auf dem Oktoberfest zu und macht euch über uns lustig, nur weil wir nicht so funktionieren wie ihr."

Helga Müller sitzt in einem Nebenraum des Kleinen Theaters Haar. Ihren wahren Namen will die Münchnerin nicht nennen, zu groß ist die Angst, öffentlich als Verrückte abgestempelt zu sein. Durch die geschlossene Tür dringt Jazzmusik und Stimmengewirr, der Verein Oberbayerische Selbsthilfe Psychiatrie-Erfahrener (OSPE) feiert sein 15-jähriges Bestehen.

Gut 60 Besucher sind gekommen, viele psychisch krank wie Müller. Die Organisation ist eine Initiative, die die Interessen von Menschen mit psychischen Störungen vertritt. Das Hauptinteresse: Psychisch Kranke sollen endlich nicht mehr ausgegrenzt werden und am Rand der Gesellschaft leben müssen. "Es ist Zeit für eine Veränderung", fordert etwa der Fachmann für Psychiatrie beim Bezirk Oberbayern, Hermann Stemmler, in seinem Vortrag.

Doch das ist schwierig. In der öffentlichen Wahrnehmung herrscht noch immer die irrige Auffassung, es gebe eine klare Trennlinie zwischen einer angeblich normalen Mehrheit und einer psychisch kranken Minderheit. Menschen wie Helga Müller gelten oft als gefährliche Gestörte, dabei gibt es de facto keine exakte Einteilung, wann welche Gemütslage als "gesund" oder "krank" einzuschätzen ist. Für die Betroffenen ist das Schubladendenken fatal: Eine aktuelle Langzeitstudie der Universität Leipzig kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass sich die Einstellung gegenüber Menschen mit psychischer Erkrankung in den vergangenen 20 Jahren nicht verbessert hat.

Jeder Dritte ist von einer psychischen Erkrankung betroffen

30 Prozent der Befragten, so erläutern die Autoren, lehnten etwa Menschen mit Schizophrenie als Nachbarn oder Arbeitskollegen ab; fast die Hälfte würde sie ihren Freunden nicht vorstellen. Das Stigma des Andersseins scheint unausrottbar zu sein.

Doch Ärzte und Organisationen stemmen sich beharrlich gegen die von Ressentiments durchsetzte Ausgrenzung. Und auch die Betroffenen erheben ihre Stimme. "Die Leute müssen kapieren, dass ihr Denken beschränkt ist und wir krank sind", sagt Helga Müller und stellt klar: "Es kann jeden treffen."

Zumindest trifft es nachweislich jeden Dritten: 31 Prozent der Deutschen sind nach neuesten Erhebungen der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) von mindestens einer psychischen Erkrankung betroffen. Laut dem Gesundheitsreport der Krankenkasse DAK von 2013 hat sich die Zahl der Krankschreibungen wegen Depression und anderen psychischen Krankheiten seit 15 Jahren mehr als verdoppelt: 14,5 aller Ausfalltage der DAK-Versicherten gingen im vergangenen Jahr auf psychische Erkrankungen zurück. Nach einer Prognose der Weltgesundheitsorganisation wird Depression im Jahr 2020 nach Herzerkrankungen auf Platz zwei der weltweit häufigsten Ursachen von Tod sowie körperlichen und seelischen Beschwerden stehen.

Dabei gilt als sicher, dass seelische Störungen in absoluten Zahlen nicht zunehmen. "Es gibt mehr Diagnosestellungen" berichtet Gabriele Schleuning, Chefärztin am Isar-Amper-Klinikum Haar. In ihrem Haus stiegen die Fallzahlen von etwa 97.000 im Jahr 2009 auf 106.500 Patienten im vergangenen Jahr.

Zum einen würden psychische Erkrankungen auch von Hausärzten häufiger und besser erkannt, erläutert Schleuning; bei den Betroffenen selbst sei zudem die Bereitschaft deutlich gewachsen, sich ärztliche Hilfe zu holen. "Es fällt Leuten heute leichter zu sagen: Ich habe eine Depression", sagt Schleuning. Eine breite Öffentlichkeit weiß inzwischen: Die lähmende Niedergeschlagenheit kann eine Krankheit sein, die behandelbar ist.

Allerdings: Nach dem Eingeständnis folgt die Demütigung. Schleuning weiß von vielen Patienten, die sich schämen und ihr Leiden als persönliches Versagen interpretieren. An dieser Stelle ist der Teufelskreis der Stigmatisierung in vollem Gang: Die von Vorurteilen vergiftete Brandmarkung dringt in die Köpfe der Kranken ein. "Selbststigmatisierung" wird das genannt, inzwischen ein anerkannter Begriff in der psychiatrischen Forschung. Dabei übernehmen die Kranken die abschätzige Einstellung, verhalten sich dementsprechend eingeschüchtert - und verstärken dadurch ihr Leiden. "Man glaubt selbst, dass man schwach ist und unfähig, für sich selbst zu sorgen", so beschreibt es Helga Müller.

Sie leidet an paranoider Schizophrenie. Mit 25 Jahren bemerkt sie in der U-Bahn, "dass etwas mit mir nicht stimmt". Die Gespräche der Fahrgäste nisten sich wie Parasiten in ihrem Gehirn ein; die Gedanken machen sich selbständig, treiben sie in Größenphantasien und Verfolgungswahn. Nach einem Klinikaufenthalt gesteht sie ihrem Arbeitgeber ihre "psychische Behinderung" ein.

Wenig Verständnis vom Arbeitgeber

Nach Müllers Worten war der Chef zunächst verständnisvoll, nach weiteren Krankheitsausfällen wurde ihr ein Auflösungsvertrag nahegelegt. "Mit einer solchen Diagnose ist man abgestempelt und hat nicht mehr die gleichen Rechte wie vorher", sagt sie. Diesen Eindruck hat auch die Bundespsychotherapeutenkammer. "Wir raten Patienten davon ab, den Arbeitgeber vorschnell über die Erkrankung zu informieren", sagt BPtK-Präsident Rainer Richter. Aus vielen Beispielen sei bekannt, dass die Betroffenen dann leicht als willens- und leistungsschwach gälten und vom beruflichen Aufstieg ausgeschlossen würden. Er fordert von der Politik ein nationales Aufklärungsprogramm, ähnlich wie Nichtraucherkampagnen.

Bisher bleiben derlei Projekte an lokalen Verbänden und Organisationen hängen. Doch die sind oft ambitioniert, wie die "4. Woche für Seelische Gesundheit" in München, die am Donnerstag beginnt und die der Verein Münchner Bündnis gegen Depression auf die Beine gestellt hat. Aufmerksamkeit erwarten sich die Initiatoren vor allem von einer Kundgebung am Eröffnungstag, die sich dezidiert gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker richtet.

Der Marsch unter dem Titel "Etikettiert Dosen statt Menschen" beginnt um zwölf Uhr am Odeonsplatz und endet zwei Stunden später am Gasteig. "Wir wollen eine Enttabuisierung und werben für einen offenen Umgang mit psychischen Erkrankungen", sagt Vereinssprecherin Rita Wüst.

Die Haarer Chefärztin Schleuning will mehr, viel mehr. Nach ihrer Vorstellung müssen zumindest die chronisch seelisch Kranken gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention den körperlich Kranken gleich gestellt werden. Helga Müller sieht das ebenso. "Ich will nicht unter Rechtfertigungsdruck stehen, wenn ich sage: Ich bin psychisch behindert."

© SZ vom 09.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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