Psychiater für Wohnungslose:Therapieren mit viel Geduld

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Günther Rödig leitet die Psychiatrische Praxis für Wohnungslose im Städtischen Unterkunftsheim an der Pilgersheimer Straße in Untergiesing. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Ein großer Teil der Wohnungslosen hat psychische Probleme. Der Psychiater Günther Rödig kümmert sich in seiner Praxis um die Patienten. Um Vertrauen aufzubauen, braucht er viel Geduld - und manche Fälle sind extrem schwierig.

Von Sven Loerzer

Der Mann, der in dem kleinen Praxisraum an der Pilgersheimer Straße sitzt, geht auf die 60 zu, aber er wirkt schon allein äußerlich keineswegs angepasst: Die langen grauen Haare hat er zusammengebunden zum Pferdeschwanz. Günther Rödig trägt auch keinen weißen Kittel, obwohl er Arzt ist: Als Psychiater hat er fast 30 Jahre lang in der "Anstalt", wie er selbst sagt, im Bezirkskrankenhaus Haar gearbeitet, das jetzt Isar-Amper-Klinikum heißt, und dort der Psychiatriereform den Weg geebnet.

Anfang 2012 verließ er Haar, weil Kostendruck und Bürokratisierung immer weniger Zeit für die Patientenversorgung lassen. Rödig übernahm die Psychiatrische Praxis für Wohnungslose im Städtischen Unterkunftsheim an der Pilgersheimer Straße, das der Katholische Männerfürsorgeverein (KMFV) betreibt. Seine Betriebsratstätigkeit in Haar behielt er aber auf Teilzeitbasis bei.

Der nicht nur rein äußerlich unkonventionelle Auftritt des Psychiaters trägt sicher auch mit dazu bei, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, denen der Glaube an eine gesicherte Existenz und verlässliche Beziehungen abhanden gekommen ist. In der Psychiatrischen Praxis für Wohnungslose, die der KMFV 2004 als Ergänzung zur Arztpraxis für Wohnungslose eingerichtet hat, suchen immer mehr Patienten Hilfe. Kamen im ersten Quartal 2012 noch 88 Patienten, so sind es aktuell knapp 250. Seine Arbeitstage beschreibt Rödig als "soziale Abenteuerreise".

Denn Wohnungslosigkeit könne entgegen bestehender Klischees jeden treffen, betont Rödig. Es sind Menschen aus vermeintlich gesicherten Verhältnissen darunter: Beamte, ehemalige Ärzte, Unternehmer, Dozenten. Selbständige geraten bei einer Pleite oder bei Krankheit oft in den freien Fall. Psychische Erkrankungen, wie etwa eine Depression, können dazu führen, dass der Alltag nicht mehr zu bewältigen ist. Die Post bleibt ungeöffnet liegen, die Miete unbezahlt - eine Räumung der Wohnung ist die Folge.

Rödig berichtet aber auch von alten Menschen, die nach 50 Jahren aus ihrer Wohnung gekündigt werden, weil ihre Rente mit den Mietkostensteigerungen nicht Schritt hält. Andere wiederum haben sich verkalkuliert: Das Geld reicht nicht, um in ihrem "Altersparadies", etwa auf Mallorca, bleiben zu können. Und immer wieder trifft Rödig auf junge Menschen, die aufgrund ihres Alters keine Jugendhilfeleistungen mehr erhalten, aber mit ihrem Leben nicht zurechtkommen. Etwa zehn Prozent seiner Patienten sind Flüchtlinge, die in der Bayernkaserne leben.

Ein großer Teil der 4000 Wohnungslosen in München hat Rödig zufolge psychische Probleme, die über Alkoholismus weit hinausgehen. 27 Prozent seiner Patienten litten unter Psychosen oder wahnhaften Störungen, zwölf Prozent hatten affektive Störungen, vor allem Depressionen. Bei 16 Prozent traten neurotische und Belastungsstörungen auf, 14 Prozent kamen mit Persönlichkeitsstörungen. Bei acht Prozent lag eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vor.

Mitunter gestaltet sich die Behandlung schwierig. "Viele Wohnungslose haben bereits schlechte Erfahrungen gemacht mit der Psychiatrie und sind deshalb eher misstrauisch bis zurückweisend bei angebotenen Hilfen." Diese Patienten reagierten deswegen ablehnend auf die Behandlung mit einem bestimmten Medikament, "weil sie wissen, sie vertragen es nicht". Doch Rödig sagt von sich, er habe ein Faible für schwierige Patienten. Dabei liege es am Arzt, einen sanften Einstieg zu finden. "Es gibt einem ein gutes Gefühl, wenn man etwas für schwierige Patienten erreichen kann."

Von Zwangsbehandlung hält Rödig nichts, stattdessen brauche man einen langen Atem, um Vertrauen aufzubauen. Manchmal hilft auch ein Appell an das Mitleid: So hat Rödig auch schon Patienten mit einer Psychose überzeugen können, ein Medikament zu nehmen, mit dem Argument, dass sonst andere Menschen vor dem Patienten Angst haben: Der Appell an das Mitleid wirke auch bei einer Psychose. Rödig verordnet nicht Medikamente, sondern versucht geduldig, dem Patienten den Nutzen einer Behandlung einsichtig zu machen. Etwa mit den Worten: "Wenn Sie das Medikament nehmen, wenn Sie Probleme haben, wie etwa Schlafstörungen, dann könnte Ihnen das helfen, ausgeglichener zu sein und nicht wieder nach Haar zu kommen."

Damit seine praktische Arbeit auch politisch Früchte für eine bessere Versorgung von psychisch Kranken trägt, kandidiert Rödig für die SPD nach 2008 nun zum zweiten Mal für den Bezirkstag. So ist ihm als Bezirksrat ein Anliegen, die "Oberlandverschickung" von Menschen zu beenden, die aus der Psychiatrie entlassen werden: Sie landen in abgelegenen, zumeist geschlossenen Heimen - für die Betroffenen sei dies eine Sackgasse. Andere Entlassene wiederum, deren Weiterbehandlung nicht gesichert ist, stranden in der Wohnungslosigkeit. Ein "Clearingheim" in Haar und ein spezielles "Brückenteam für Sozialpsychiatrie" sollen nach Rödigs Vorstellungen die Situation verbessern.

Zu Rödigs Aufgaben gehört auch, im Auftrag des Münchner Wohnungsamts zu beurteilen, ob ein Wohnungsloser wegen seiner Erkrankung in einem Einzelzimmer untergebracht werden muss. Denn stadtweit gebe es nur etwa 200 Einzelzimmer, was etwa fünf Prozent der Gesamtkapazität der Wohnungslosenhilfe entspricht. Um die Notunterbringung zu entlasten, plädiert Rödig für ein "Ledigenheim II", das nach dem Vorbild des fast 100 Jahre alten Ledigenheims mit "Schlichtzimmern" günstiges Wohnen ermöglicht: Knapp 200 Euro kosten dort die Minizimmer, die trotz der Enge und der Abstriche an Wohnkomfort außerordentlich gefragt sind. "Viele Leute haben gar nicht große Wünsche", sagt Günther Rödig, "sie sind froh, wenn sie ein Zimmer selber von ihrer Rente bezahlen können und nicht zum Amt müssen."

© SZ vom 19.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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