Prozess gegen U-Bahn-Schubser:"Der Schutzengel hat aufgepasst"

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Hätte der Angeklagte die Schülerin nur eine Zehntelsekunde später geschubst, wäre das Mädchen unter die Räder gekommen.

Alexander Krug

Über Leben und Tod entscheidet manchmal nur der Bruchteil einer Sekunde - das gilt auch für das Opfer des sogenannten U-Bahn-Schubsers. Der technische Sachverständige Hubert Birlmeier war am Donnerstag im Prozess als Gutachter geladen und stellte folgende Rechnung auf: Hätte der Angeklagte Rentner Ludwig D. die Schülerin nur eine Zehntelsekunde später geschubst, wäre sie nicht mehr aus dem Spalt zwischen den beiden U-Bahn-Waggons herausgeschleudert worden, sondern direkt in den Freiraum hineingefallen.

Eine U-Bahn-Kamera hatte den U-Bahn-Schubser aufgenommen. (Foto: Foto: ddp)

Das Mädchen wäre mit dem Kopf auf die Kupplung geschlagen und der Körper unter die Laufräder gezogen worden. Sein Fazit: "Das war ein enormer Glücksfall. Der Schutzengel hat seinen dicken Daumen dazwischen gehalten."

Gutachter Birlmeier bot dem Gericht noch weitere Varianten an, um seine These von Fortunas Hilfe zu untermauern. Wäre die U-Bahn nur etwas langsamer in den Bahnhof eingefahren, also statt der errechneten 20 nur 12 Kilometer pro Stunde, dann wäre das Mädchen ebenfalls direkt in den Waggon-Spalt gestürzt. Und hätte die Schülerin nicht ihre Arme ausgestreckt, um den Sturz abzufangen, hätte sie stattdessen einen Ausfallschritt nach vorne gemacht, wäre sie in den Spalt zwischen Bahnsteig und Gleis geraten, ebenfalls mit tödlichem Ausgang.

Von Hypothesen und Wahrscheinlichkeiten war am Donnerstag viel die Rede im Schwurgericht, doch im Grunde geht es vor allem um eine juristische Frage: Bleibt der Anklagevorwurf des versuchten Mordes bestehen, dann steht dem 70-jährigen Angeklagten unter Umständen ein mehrjähriger Aufenthalt hinter Gittern bevor. Verteidiger Peter Guttmann versucht daher alles, die Anklage auszuhebeln. In einem Beweisantrag forderte er die Richter auf, den unscharfen Videofilm des Vorfalls durch einen Sachverständigen auswerten zu lassen. Guttmann zufolge soll einer der herumtollenden Jugendlichen kurz vor dem Vorfall seinen Mandanten "gestreift" haben.

Der 70-Jährige habe befürchtet, umgerannt zu werden und sei ,,verängstigt'' gewesen - zumal nach der bundesweit Schlagzeilen produzierenden Attacke von Jugendlichen gegen einen Rentner am U-Bahnhof Arabellapark Ende 2007. Damals hatten zwei Halbstarke einen 76-Jährigen halbtot getreten. Verteidiger Guttmann ist der Auffassung, sein Mandant habe die Situation im U-Bahnhof "völlig falsch" eingeschätzt.

Die Tat sei weder vorhersehbar noch geplant gewesen. Dies spreche gegen einen bedingten Tötungsvorsatz und für eine Körperverletzung. Die Kammer reagierte verärgert auf den Antrag. Dass ein Sachverständiger auf dem Videofilm mehr sehe als die Richter, sei kaum anzunehmen, meinte Richter Manfred Götzl: "Welche Sachkunde brauche ich denn beim Betrachten von Bildern?" Staatsanwalt Laurent Lafleur hält den Antrag grundsätzlich für "ungeeignet". Eine Verbesserung des Bildmaterials sei nach Auskunft von Experten nicht zu erwarten. Der Prozess wird am heutigen Freitag fortgesetzt, voraussichtlich mit den Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung.

© SZ vom 16.01.2009/wib - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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