Prothesen:Eine Arbeit jenseits von Schuheinlagen

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Christian Oberpriller ist Meister der Orthopädietechnik. Zu ihm kommen Chirurgen, wenn sie ein Patientenleben retteten, dabei aber einen Körperteil verloren geben mussten

Von Isabel Winklbauer, München

In der orthopädischen Werkstatt des Klinikums Großhadern stehen merkwürdige Gebilde herum: Gliedmaßen, Gelenke, Halbschalen, Schädelformen. Abbilder der körperlichen Existenz in Gipsweiß, gelagert in Regalen oder eingespannt in Gestelle. "Das ist das Beinmodell eines 16-jährigen Jungen", sagt Christian Oberpriller. Ein Krebspatient. Die Ärzte mussten ihm den Oberschenkel amputieren. "Da Unterschenkel und Fuß aber noch gesund waren, bekam er beides in gedrehter Position an die Amputationslinie wieder angenäht", erklärt Oberpriller. So übernahm das Sprunggelenk die Funktion des Knies, der Junge hatte wieder ein Gliedmaß mit anatomischem Gelenk. "Wir haben ihm die entsprechende Prothese dazu gebaut", sagt er.

Oberpriller ist Meister der Orthopädietechnik. Sein Arbeitsplatz liegt derzeit noch direkt zu Füßen des Klinikums, bis zu den Stationen ist es nur ein Sprung. Manche seiner Kollegen würden ihn sogar als das wichtigste Notfallrezept der Ärzte von Großhadern bezeichnen, denn bei dem 35-Jährigen landen all die Fälle, bei denen die Chirurgen nicht so konnten, wie sie wollten - sprich, in denen sie das Patientenleben retteten, dabei aber ein Körperteil verloren geben oder stark einschränken mussten. Dann muss eine Stütze her oder ein Ersatz für das Körperteil, und diese Gegenstände fertigt Oberpriller in allen Sondervarianten.

Oft meldet sich ein Arzt mit der Frage nach der bestmöglichen Versorgung. Etwa: Wie schützen wir das teilweise offen liegende Gehirn des Schlaganfallpatienten? In diesem Fall nimmt Oberpriller einen Gipsabdruck des Patientenkopfs und baut mithilfe des Modells und Fingerspitzengefühl eine Schädelorthese, also eine stützende Schale. Ein anderes Beispiel: Der Dünndarm eines 70-jährigen, an Krebs erkrankten Mannes bewegt sich mit dem künstlichen Ausgang immer weiter aus dem Körper hinaus und liegt eine Baby-Unterarmlänge weit im Freien. Oberpriller weiß Rat. "Versuchen Sie, morgens ihre Bauchbinde im Liegen anzuziehen", sagt er dem Patienten, "denn wenn wir uns die Schwerkraft zunutze machen, bleibt das Organ im Bauchraum, bis alles bekleidet und fixiert ist." Schließlich holt Oberpriller ein kreisförmiges Stück aus Plastik und legt es dem Patienten an - eine Prolapskappe, die als Auffangbehälter für den Darm fungiert. "Viele unserer Patienten kommen aus der Onkologie", erklärt Oberpriller. "Anatomie gehört zur Ausbildung. Aber in den Fallbesprechungen und im Austausch mit den Patienten lernt man immer weiter dazu."

Aber Oberprillers Fachwissen ist nicht nur im Krankenhaus gefragt. So zeigte ihm ein Mitarbeiter des Landesamts für Denkmalpflege einen Gegenstand und wollte wissen, was das sein könnte. Der Gegenstand stammte aus dem Grab eines merowingischen Adligen aus dem siebten Jahrhundert. "Zufällig hatte ich kurz zuvor einer Reiterin das Sprunggelenk stabilisiert, deshalb hatte ich sofort eine Idee", erzählt Oberpriller. "Der Adlige muss eine abnehmbare Fußstütze getragen haben, um nach einer Verletzung sein Pferd dirigieren zu können." Den Nachbau aus Holz, Leder und Metall fertigte Oberpriller nur mit Werkzeugen, die es im Frühmittelalter schon gab - "das war eine ganz schöne Herausforderung".

Die Arbeit im Klinikum ist weit weg von Schuheinlagen und ungemein spannend. Aber oft auch traurig. "Mein erster Fall in Großhadern war eine junge Frau mit drei Kindern", erzählt Oberpriller. "Sie starb an ihrer Krebserkrankung, bevor wir das Stützkissen fertiggestellt hatten, das ihr das Liegen erleichtern sollte. Da bekommt man schon einen Kloß im Hals."

Der Orthopädietechniker nimmt sich immer gerne Zeit für eine Unterhaltung. Auch dem Mann mit der Dünndarm-Orthese hört er aufmerksam zu, als dieser fast 20 Minuten lang seine Krankengeschichte erörtert. "Da ich die Patienten immer mehrmals sehe, baut sich zwischen ihnen und mir schnell eine Vertrauensbasis auf", sagt Oberpriller, "so einige erzählen mir von ihren Ängsten." Er überlegt kurz. "Eine gesunde Portion Sarkasmus und Humor, wie wir sie hier manchmal zum Selbstschutz pflegen, ist in bestimmten schweren Situationen auch für den Kranken tröstlich." Nicht wenige von Oberprillers Kunden sterben. Auch der Junge mit dem amputierten Oberschenkel lebt nicht mehr. Sein Gipsmodell wird, wie so viele, im Werkstattregal aufbewahrt, als Vorbild für ähnliche Fälle. Der Raum mit den Gipsmodellen ist eine Sammlung von Geschichten. Und Oberpriller kennt sie alle. Er ist seit 13 Jahren in der Werkstatt angestellt.

Besser gesagt: Er war angestellt. Er und mehrere Kollegen haben bei dem Betreiber der orthopädischen Werkstatt gekündigt, um ganz in der Nähe in Martinsried einen eigenen Betrieb zu eröffnen. In diesem wird Oberpriller Betriebsleiter und Gesellschafter. "Ich liebe klinische Orthopädie", sagt Oberpriller, "Großhadern ist das Paradies für mich." Natürlich gibt er auch in Zukunft den Ärzten und Patienten Antworten.

© SZ vom 07.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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