Praktische Aufklärung:Eltern auf Probe

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Die Jugendlichen Polina, Josephine, Sascha und Luka (von links) haben vier Tage lang getestet, wie es ist, ein Kind zu betreuen. Die Sozialpädagogin Jutta Stiehler (Mitte) betreut das Projekt des Vereins heilpädagogisch-psychotherapeutische Kinder- und Jugendhilfe. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Ein Verein bietet an Münchner Mittelschulen das Projekt Babybedenkzeit an. Jugendliche sollen hier lernen, was es bedeutet, Kinder zu bekommen

Von Jacqueline Lang

Langeweile, Hunger, Aufstoßen oder Windel voll. Das sind die vier Gründe aus denen Kasumi, Kimiko, Ruby, Mila, Jeva und Ivan in unregelmäßigen Abständen anfangen zu schreien. Nicht weil sie eines dieser Bedürfnisse tatsächlich verspüren, sondern weil sie so programmiert worden sind. Bei den sechs, in flauschige Strampler gepackten Babys, die auf dem Tisch liegen, handelt es sich nämlich nicht um echte Menschen, sondern um Babysimulator-Puppen. Am Tisch sitzen deshalb auch keine jungen Mütter und Väter, sondern fünf Mädchen und ein Junge zwischen 14 und 16 Jahren, die für drei Nächte und vier Tage testen, wie es ist, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen.

Betreut und geleitet wird das Projekt "Babybedenkzeit" vom Verein heilpädagogisch-psychotherapeutische Kinder- und Jugendhilfe, kurz: hpkj. Ausgelegt ist es für maximal acht Schüler - grundsätzlich unabhängig von Geschlecht und Bildungsschicht. Leiterin und Ansprechpartnerin für die Jugendlichen in dem Projekt ist Jutta Stiehler, 59. Die Sozialpädagogin war zuvor 16 Jahre lang für die Zeitschrift Bravo im Dr.-Sommer-Team, das Fragen von Jugendlichen zu den Themen Liebe und Sexualität beantwortet.

Sechs Jugendliche nehmen diesmal an dem Projekt teil. Luka, Sascha, Josephine, Polina sowie Melanie und Zarah, die beide lieber anonym bleiben, besuchen die neunte Klasse einer Mittelschule in Milbertshofen. Auch mit ihnen spricht Stiehler viel über die verschiedensten Aspekte von Sexualität, Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes. Zusätzlich zu den Gesprächen über Verhütung, das erste Mal und Geschlechtskrankheiten müssen die Jugendlichen im Laufe des viertägigen sogenannten Elternpraktikums teils alleine oder mit ihren Eltern sowie teils in der Gruppe die Babys wickeln, füttern und sie im Arm wiegen, wenn ihnen langweilig wird.

Obwohl alle Beteiligten wissen, dass es sich nur um Puppen handelt, sind sie doch immer etwas nervös, wenn sie noch nicht wissen, welches Baby gerade schreit. Wenn das der Fall ist, gilt es herauszufinden, was ihm fehlt. Zufrieden sei es erst dann, wenn es lacht oder rülpst, sagt Melanie. Das Mädchen mit der Zahnspange und den rot gefärbten Haaren hat heute Nacht am wenigsten geschlafen, denn immer wenn ihr eigenes Baby nicht geschrien hat, war es das von Zarah oder Luka. Die drei haben beieinander übernachtet. Genauso haben es auch Josephine und Sascha gemacht. Nur Polina hat alleine zu Hause geschlafen. Im Fall von Melanie hat die Mutter schon angeboten, ihrer Tochter zu helfen, wenn diese sich überfordert fühlt. Für Stiehler eine weitere wichtige Erfahrung, die die Kinder während des Elternpraktikums machen: Sie lernen, dass sie mit ihren Entscheidungen nicht alleine sind und dass sie Hilfe bekommen, wenn sie diese brauchen. Im Moment liegt Melanies Baby, dem sie den Namen Kasumi gegeben hat, aber ruhig auf dem Tisch. Dafür gibt Ivan Geräusche von sich. Luka lacht gequält und berührt mit dem Band um seinen Arm den Hals der Puppe. Durch den Chip weiß diese nun, wer sich um sie kümmern wird. Die Gruppe fängt sofort an zu spekulieren, was das Baby wohl wollen könnte. "Wenn es so laut schreit, dann hat es Hunger", sagt Melanie. Sie hat recht. Luka führt das leere Fläschchen an den Mund seiner dunkelhäutigen Puppe und grinst schief.

Laut einer australischen Studie, die Ende August in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, bekommen die Jugendlichen, die an einem Elternpraktikum teilnehmen, nicht seltener Nachwuchs, sondern sogar häufiger früh. Verfehlt das Projekt also seinen Sinn? Nein, sagt Stiehler, denn in Deutschland gehe es nicht darum, die Jugendlichen davon abzuhalten, Kinder zu bekommen. Vielmehr wolle man sie ausreichend informieren, für den Fall, dass sie sich für ein Kind entscheiden - egal zu welchem Zeitpunkt. Stiehler ist es wichtig, dass das Projekt ergebnisoffen bleibt, da sie Abschreckung für keine pädagogisch sinnvolle Maßnahme hält.

Sascha, mit 16 Jahren eine der Älteren in der Gruppe, wirkt für ihr Alter schon sehr abgeklärt. "Das ist nicht wie ein Baby, eher wie ein Spielzeug", sagt sie. Die Leute auf der Straße sehen das nicht sofort, wenn die Puppen dicke Jacken und Mützen tragen. Sascha ist es aber egal, dass die Leute auf der Straße blöd gucken, als die Gruppe mit den Babys vor den Bauch geschnallt durch Schwabing läuft. Die Leute würden einen sowieso verurteilen, egal was man mache, sagt die junge Ukrainerin mit den schwarz lackierten Fingernägeln. Dass sie mit 16 Jahren noch sehr jung für ein Baby sei, wisse sie trotzdem, sagt sie. Ein gutes Alter schwanger zu werden? "Mit 20", sagt Sascha ohne langes Zögern und streicht sich eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht.

Jutta Stiehler hat unabhängig von der australischen Studie die Erfahrung gemacht, dass ihre Schützlinge meistens sehr froh sind, die Puppen nach vier Tagen wieder abgeben zu dürfen. Nur in Einzelfällen wollten Jugendliche ihre Puppe behalten. Wenn jemand die Entscheidung schon gefällt habe, ein Kind zu bekommen, könne man ihn oder sie sowieso nicht davon abhalten, sagt Stiehler. Alle anderen verschieben ihren Wunsch nach einer eigenen Familie auf einen späteren Zeitpunkt in ihrem Leben.

Als die kleine Gruppe schließlich das Gebäude der hpkj verlässt, sind sowohl die Jugendlichen als auch ihre Babys dick eingepackt. Auf dem Weg in den kleinen Kinder-Secondhand-Laden in der Siegfriedstraße entdeckt Luka, dass sich der Kopf seiner Puppe wunderbar als Ablage für sein Handy nutzen lässt. Kurz spielt er das Spiel "Grand theft Auto", doch dann klärt Stiehler die Gruppe darüber auf, dass die Handysignale die Signale der Puppe beeinflussen. Am Ende sollen aber alle Informationen, die die Puppe gespeichert hat, anonym ausgewertet werden. Kurz bekommen die Jugendlichen deshalb Panik, weil sie natürlich alle immer ihr Handy bei sich haben. Stiehler beruhigt die Jugendlichen: Auch bei der Auswertung werde es kein Richtig oder Falsch geben. Angekommen in dem kleinen Secondhand-Laden sind die Jugendlichen etwas unschlüssig, nur vereinzelt ziehen sie Sachen aus den Regalen. "Ich brauche nichts", sagt Melanie und geht wieder hinaus. Am Ende verlassen alle den Laden mit leeren Händen, niemand hat etwas Schönes für unter zehn Euro gefunden. Mehr Geld kann Stiehler den Jugendlichen nicht zur Verfügung stellen, weil es sowieso schon Schwierigkeiten gibt, das Projekt regelmäßig zu finanzieren. Mit 450 Euro pro Person ist "Babybedenkzeit" nicht gerade billig und kann deshalb auch nur so oft umgesetzt werden, wie genug Spenden zusammen kommen.

Die Gruppe trottet weiter. Nächster Stopp: ein Café an der Münchner Freiheit. Niemand macht sich die Mühe, die Puppe aus dem Gurt zu befreien. Viel zu umständlich. Sie füttern könne man auch so, da sind sich alle einig. Immer wieder beugt sich aber jemand zum Kopf des eigenen Babys hinunter, um zu hören, ob es Geräusche von sich gibt. "Ich werde schon paranoid", sagt Melanie. Sie hat die Augen geschlossen, ihre Wange auf dem Kopf des Babys abgestützt - die letzte Nacht ist nicht ohne Spuren geblieben. Zarah ihrerseits ist kurzzeitig fest davon überzeugt, dass ihr Baby tot ist oder der Akku kaputt, weil es die letzten Tage immer geschrien hat und plötzlich ganz still ist. Stiehler versichert ihr aber, dass das nicht passieren könne. Schließlich fängt doch noch eines der Babys an zu schreien. Die anderen, deren Puppen ruhig bleiben, sind erleichtert. Das leicht metallisch klingende Schreien kommt auch dieses Mal von Lukas Baby - es will gewickelt werden. "Kannst du mal halten?", fragt er Polina, die neben ihm sitzt. Sich gegenseitig zu helfen, ist in der Gruppe selbstverständlich geworden. Polina hält den Kopf des Babys, während Luka ihm die Hose runter zieht. Im echten Leben müsste man nun den Po abwischen, bei der Babysimulator-Puppe reicht es, wenn man die Windel wechselt. Die landet auch nicht im Müll, sondern wieder in Lukas Tasche. Deshalb hat auch niemand etwas dagegen, dass Luka das am Tisch erledigt.

Der Käsekuchen ist nur zur Hälfte aufgegessen, weil er den Eltern auf Probe nicht schmeckt, das Red Bull ist dagegen leer. Schließlich ist es Zeit für die Gruppe, sich für den Tag voneinander zu verabschieden. Es steht ihnen noch eine letzte Nacht mit dem Baby bevor. Am nächsten Tag um die Mittagszeit schalten sich die Puppen dann selbständig aus und werden wieder in ihren Koffern verstaut - bis es für eine andere Klasse wieder "Babybedenkzeit" heißt.

Zarah, Melanie, Luka und Josephine werden mit dem Auto abgeholt, Polina und Sascha fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Was sie heute noch vorhaben? Sie lasse sich heute noch ihre Nägel machen, sagt Sascha. Und nein, natürlich nehme sie ihr Baby nicht mit. Das bleibe bei ihren Eltern, sagt die 16-Jährige und lacht sorglos.

© SZ vom 18.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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