Pilgern zu sich selbst:Mit Buffon nach Rom

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Thomas Mohr ist mit drei Lamas in die Hauptstadt Italiens gewandert. Für den Juristen war die Reise auch eine Art Therapie

Von Gerhard Fischer

Die drei Männer mit den Lamas sind bei der Papst-Audienz in Rom. Der Zeremonienmeister weist sie an, zwischen dem Altar und der ersten Reihe der Gläubigen Platz zu nehmen. Den Männern werden Sessel hingestellt. Die Lamas bekommen Wasser. Die Gläubigen fotografieren die Tiere, manche machen Selfies mit ihnen. Dann kommt der Papst. Er begrüßt die Leute in der ersten Reihe. "Er sah uns zunächst nicht", sagt Thomas Mohr, "aber dann zogen ihn seine Begleiter am Arm, er drehte sich um, schaute uns an - und strahlte über das ganze Gesicht."

Mohr, 53, hat das Buch "Mit drei Lamas nach Rom" geschrieben. Der Titel klingt lustig. Aber der Untertitel deutet an, dass es in dem Buch um sehr viel mehr geht. Er lautet: "Wie ich als Schatten meiner selbst loszog und unterwegs das wahre Leben fand." Mohr hat ein unheilbares Prostata-Karzinom. "Ich werde irgendwann an diesem Krebs sterben", sagt er. "Die Lebenserwartung ist zwischen sieben Jahren und Regelaltersgrenze; meine Ärzte verweisen immer auf entscheidende Fortschritte in der Medizin." Der 1075 Kilometer lange Fußmarsch von Südtirol nach Rom diente auch dazu, die Krankheit anzunehmen.

Thomas Mohr sitzt in seiner Kanzlei in der Münchner Innenstadt, er ist Rechtsanwalt. Mohr ist ein kräftiger Kerl mit grauem Bart und grauen Haaren. Er könnte auch im Holzfällerhemd am Konferenztisch sitzen. Aber Mohr trägt einen Anzug. Er sagt, er werde jetzt häufig wegen Lesungen angefragt. "Aber einige Buchhandlungen wollen, dass wir die Lamas mitbringen." Das geht meistens nicht.

Mohr ist in Hamburg geboren und in Südtirol aufgewachsen. Für das Studium kam er nach München und blieb. Im November 2017 war Mohr auf der Lamafarm seines Bekannten Walter Mair in Oberbozen. Er hatte damals die ersten Behandlungen hinter sich, eine Operation und Bestrahlungen. Auf der Farm traf er auch Thomas Burger. Mohr kennt Burger schon seit der Schule. "Tom und Walter sagten, sie planten eine Wanderung mit Lamas nach Rom, und fragten, ob das nicht auch etwas für mich sei." Mal ausbrechen aus dem Hamsterrad. Entschleunigen.

Mohr überlegte. Die Krankheit, sagt er, hatte damals zu einer "gewissen Kopflosigkeit" bei ihm geführt. Er dachte deshalb, es sei gut, Abstand zu gewinnen - und zu sinnieren, wie es weitergehen solle in seinem Leben. "Und schließlich erkennt auch die Schulmedizin an, dass Bewegung die Therapie unterstützt." Er redete mit der Familie und suchte einen Vertreter für die Kanzlei. Dann teilte er Burger und Mair mit, dass er mitkomme. Er sagte ihnen zunächst nicht, dass er Krebs hatte. "Ich hatte die, nun ja, schrullige Vorstellung, dass der Krebs ein Makel sei; dass ich durch meine Lebensführung selbst daran schuld sei." Er nennt Stress, Rauchen, Ernährung.

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(Foto: Thomas Burger)

Thomas Mohr mit seinem Lama Tiento.

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(Foto: privat)

Die beiden anderen Tiere heißen Buffon und Shaqiri, beide benannt nach Fußballern. In Ravenna wird Shaqiri, der Probleme mit seinen Ballen hat, durch Luigi ersetzt.

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(Foto: privat)

Die Pilgerreise ist kräftezehrend und führt durch Regen, Schlamm und Schnee.

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(Foto: Romano Siciliani/Vatican Media)

Doch am Ende, bei der Papst-Audienz, ist die Freude groß.

Sie starten im Februar 2018. "Als ich in Oberbozen loslaufe, bringe ich stolze 115 Kilo auf die Waage", schreibt Mohr. "Psychisch bin ich durch eine verheerende Krebsdiagnose in Mitleidenschaft gezogen. Meine Vorbereitung auf die kräftezehrende Pilgerreise ist rudimentär. Wie naiv kann man sein?" Das Tempo der Tiere kommt Mohr entgegen. "Sie haben einen langsamen, konstanten Schritt mit drei bis vier Stundenkilometern", sagt er. Ein Tier heißt Buffon, wie der italienische Torwart. Das zweite Shaqiri, wie der Schweizer Fußballer. Mohr läuft mit Tiento.

Sie gehen die Via Romea Germanica entlang, den deutschen Pilgerweg nach Rom, der zu 50 Prozent auf Asphalt verläuft. Den Männern macht das nichts aus, aber zwei Tiere haben Probleme. "Die Lamas haben ja keine Hufe, sondern Ballen, und diese hat der Asphalt aufgeraut", sagt Mohr. In Ravenna wird ein Lama ausgetauscht. "Und das andere bekam Schühchen."

Schühchen?

"Ja, die wurden extra angefertigt, eine Kombination aus Hufprotektoren von Pferden und Ballenschonern für Hunde." Das Lama geht mit den Schühchen weiter. "Sie haben gut gehalten und das Tier in keiner Weise beeinträchtigt", sagt Mohr. Anfeindungen im Netz gibt es trotzdem. "Man warf uns vor, wir würden in einem überzogenen Geltungsbewusstsein die Tiere opfern." Er schüttelt den Kopf. Im Internet, sagt er, gebe es "viel Meinung, wenig Wissen". Mair würde die Lamas nie einer Gefahr aussetzen. "Der liebt seine Tiere."

Mohr sitzt an seinem Konferenztisch und erzählt nüchtern. Da ist kaum Gestik, wenig Mimik. Manchmal hält er den Kopf etwas gesenkt und guckt sein Gegenüber von unten herauf an, als wolle er fragen: Erzähle ich so, dass alles nachvollziehbar ist? Er wirkt gefestigt, aber nicht überschwänglich beim Rekapitulieren der Reise. Noch nicht.

Als sie in die Dörfer kommen, kriegen die Kinder schulfrei, um die Lamas zu sehen und zu streicheln. Die Bürgermeister empfangen die Pilger, Essen wird aufgetischt, Medien berichten. Es gibt viele lustige Begegnungen, zum Beispiel einen Besuch beim damaligen Ministerpräsidenten Paolo Gentiloni. Die Sicherheitskräfte vor dem Regierungssitz können gar nicht glauben, dass Gentiloni drei Männer mit drei Lamas eingeladen hat. "Ein Sicherheitsmann mit Trenchcoat fuhr uns an, wir sollten keine Märchen erzählen", sagt Mohr. Als der Mann sich via Funkgerät vergewissert hat, lässt er die Pilger lachend passieren.

Mohr lacht auch, als er das erzählt. Er ist jetzt in Fahrt, fast euphorisch. Man merkt, wie gern er mit Mair, Burger und den Lamas unterwegs gewesen ist.

"Einmal haben wir in Cadino bei einer Unterkunft angerufen", erzählt er, "und die Wirtin bestätigte: Ja, sie habe ein Zimmer für uns Pilger. Als wir sagten, wir brächten drei Lamas mit, herrschte am anderen Ende der Leitung pures Entsetzen." Die Wirtin lehnt ab. Als sie abends in Cadino ankommen, es ist kalt und dunkel, gehen sie mangels Alternativen trotzdem zu dieser Unterkunft. Und? "Die Wirtin zerfloss", sagt Mohr und lacht, "sie merkte, wie lieb die Lamas sind. Sie bekamen Heu und Wasser und konnten in einer schnell aufgebauten Umzäunung schlafen." Meistens ist es kein Problem, eine Unterkunft zu bekommen. Es heißt häufig: Ich kenne einen Onkel mit einer Scheune, oder eine Cousine, die einen Reiterhof führt. "Italiener sind sehr tierlieb", sagt Mohr. "Und manche haben uns auch mit den heiligen drei Königen verglichen." Mohr lacht. Das sei übertrieben, sagt er - besonders, als sie von einer großen katholischen Tageszeitung so genannt worden sind.

Thomas Mohr ist ein kräftiger Kerl mit grauem Bart und grauen Haaren. (Foto: Catherina Hess)

Aber wie ging es ihm eigentlich?

"Meine innere Verfasstheit verlief in Wellenbewegungen", sagt er. Anfangs sei das Wetter schlecht gewesen. Sie hätten ständig nasse Schuhe und Schlamm an den Füßen gehabt. Da habe er sich auf den Weg konzentriert. Aber langsam habe er die Kanzlei aus dem Kopf bekommen. Und er habe sich mit der Krankheit befasst, von der Burger und Mair mittlerweile wussten. "Während der Reise war eine Vertrautheit gewachsen", sagt Mohr.

"Die Frage war, wie will ich meinen weiteren Weg gestalten." Den Lebensweg. "Mir ging alles Mögliche durch den Kopf", sagt er, "aber ich konnte meine Gedanken nicht in ein Raster spannen, ich fand zunächst keinen Lösungsweg."

Er geht ins Nebenzimmer und holt ein paar Blätter, auf denen er Sätze angestrichen hat. Es sind die kopierten Seiten 213 bis 221 aus dem Buch. Mohr beschreibt dort, wie er im Kloster La Verna eine Schwester des Franziskanerordens trifft. Mohr ist Katholik. In dem Gespräch mit der Schwester geht es um Gott, um ein Leben nach dem Tod und wie er weiterleben könne mit seiner Diagnose. "Das war ein entscheidendes Treffen", sagt er. "Es hat mir sehr geholfen. Im Grunde geht es darum, dass ich jetzt zwei neue Leben habe."

Das eine neue Leben ist die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Das zweite neue Leben führt Mohr im Diesseits. Er sagt, er nehme die Krankheit an, er laufe keiner Heilung hinterher, und er habe nach der Pilgerreise "ausgetretene Pfade" verlassen. Er habe sich "ein Stück weit aus dem Beruf heraus genommen". Der Kollege, der ihn während der Reise vertrat, sei weiter in der Kanzlei. Er selbst tue beruflich und privat vorwiegend Dinge, die ihm Spaß machten. Zum Beispiel will er wieder wandern: mit Lamas in den Süden Italiens, ohne Lamas nach Jerusalem.

Mohr wirkt, als freue er sich sehr darauf. Vermutlich hat er seine dunklen Stunden, klar, aber irgendwie ist da eine Kraft. Und es klingt nicht wie ein Kalenderspruch, wenn er sagt: "Ich bin aufgerufen, das Leben, das ein unermessliches Geschenk ist, solange es mir möglich ist, bewusst und zielgerichtet zu leben."

Wann entstand eigentlich die Idee, ein Buch über die Reise zu schreiben? "Erst am Ende", sagt Mohr, angestoßen von einer Reporterin, die eine Dokumentation über die Pilger mit den Lamas drehte. Diese fragte ihn: "Na, Herr Mohr, was bleibt denn von diesen Tagen übrig?" Er sei nicht in der Lage gewesen, etwas Sinnvolles zu antworten, sagt Mohr. "Da habe ich gewusst, dass ich meine Gedanken ordnen musste." Er fuhr heim und fing an zu schreiben.

© SZ vom 08.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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