Phantombildzeichnerin Waldy Benner:Porträts für die Verbrecherjagd

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Augen auseinanderstehend? Südländischer Typ? Die Münchnerin Waldy Benner wühlt im fotografischen Gedächtnis von Verbrechensopfern - sie zeichnet Phantombilder für das LKA. Jedes vierte sorgt für einen Fahndungserfolg.

Ronen Steinke

Dieser Moment erfordert die ganze Kunst von Waldy Benner. Ein paar Klicks - und plötzlich starren einen nicht weniger als 310 Augenpaare an. Aufgerissene Augen. Wütende, weit auseinander stehende, verzweifelte, asymmetrische Augenpaare, auch solche mit ganz extravaganten Wimpern oder dem sogenannten Schlafzimmerblick: die Lider über den Pupillen. Der Mensch, der neben Waldy Benner sitzt, erschrickt dann oft. Oder, was noch schlimmer ist, er verstummt.

Es ist bestürzend, wie schlecht man sich an Details erinnert - zum Beispiel wenn man einmal versucht, einer Phantombildzeichnerin das Gesicht des Münchner OBs Christian Ude zu beschreiben. (Foto: Waldy Benner / dpa)

"Das Opfer schaut seinem Peiniger hier erstmals wieder ins Gesicht", sagt Waldy Benner. Die schwierige Aufgabe der kleinen, 41 Jahre alten Frau in solchen Momenten besteht darin zu klären, aus welchem Augenpaar genau der Peiniger zurückguckt.

Benner ist die Phantombildzeichnerin des Landeskriminalamts (LKA), sie soll Zeugen dabei helfen, sich mitzuteilen, auch das Zittern und die Angst zu überwinden. Und dabei hilft ihr zwar grundsätzlich ein digitaler Baukasten mit Hunderten Gesichtsteilen. Aber Augen sind etwas derart Individuelles, Lebendiges und zugleich für die Wiedererkennung Zentrales, dass darin trotzdem oft die richtigen fehlen. Dann holt Benner einen weißen Kunststoffstift hervor, setzt ihn auf einer kleinen weißen Tafel an, die zum Computer gehört. Und hört zu.

"Das macht überhaupt nichts", sagt sie zum Beispiel lächelnd, wenn ein Zeuge nicht recht zu antworten weiß. Wenn er vielleicht im Raum umhergehen möchte, zwischen den behördentypischen Pflanzenkübeln und den gänzlich behördenuntypischen Filmplakaten, die Benner zur Auflockerung aufgehängt hat.

Gerne streicht die Zeichnerin ihre schwarzen Haare zurück, schenkt Mineralwasser ein, sagt Sätze wie: "Wir haben Zeit." Eine Phantombildzeichnerin ist die einzige Porträtkünstlerin, die ihr Motiv nur im Gespräch finden kann.

38 verschiedene Gesichtsformen, 263 Nasen, 248 Lippenpaare

Und sie ist auch diejenige, die den Verbrechensopfern schonend beibringen muss, dass deren Erinnerung nur eine persönliche, keine absolut gültige ist. "Die Zeugen", sagt Benner, "suchen immer Augen, die besonders grimmig schauen. Wir versuchen ihnen dann zu erklären, dass der Täter im normalen Leben ganz normal schaut."

38 verschiedene Gesichtsformen stehen auf dem Bildschirm zur Auswahl. Vom muskulösen Hals über die spitz hervortretenden Wangenknochen bis hin zum gänzlich qualligen Kinn (das Kinn ist das Wichtigste, sagt Benner). 263 Nasen kommen hinzu. 248 Lippenpaare. Die Möglichkeiten, aus Nervosität einem falschen Impuls zu folgen und in diesem Baukasten danebenzugreifen, potenzieren sich damit. Die Zeugen kramen in ihrem Gedächtnis, oft schwanken sie dabei.

Zumindest auf der beschränkt aussagekräftigen Basis eines Selbstversuchs - man versuche einmal, Waldy Benner das tausendmal gesehene Gesicht des Münchner Oberbürgermeisters Christian Ude präzis zu beschreiben - lässt sich sogar sagen: Es ist bestürzend, wie schlecht man sich erinnert, sobald es um Details geht.

Wenn es um real erlebte Verbrechen geht, sei dies anders, glaubt Benner. Das Gesicht eines Räubers, der einem eine Pistole vorgehalten habe, brenne sich ein. Die Meinungen der Psychologen gehen hier zwar auseinander. Aber zumindest Benners Erfahrung ist, dass das fotografische Gedächtnis unter Stress sogar besser funktioniert.

Auch legt die Zeichnerin es auf eine allzu detaillierte Erinnerung, wie sie versichert, gar nicht an. Kleine Lachfältchen, einzelne Haarsträhnen oder die Krümmung der Wimpern würden im groben Druckraster der Boulevardblätter ohnehin verschluckt werden. Auf die bunten Tageszeitungen kommt es bei einer Fahndung weitaus stärker an als auf die paar säuberlich ausgedruckten DIN-A3-Plakate, welche die Polizei auf Vitrinen der Deutschen Bahn verteilen kann. Ein vages Bildnis, das nur den Gesamteindruck eines Menschen einfängt - das regt die Erinnerung der Betrachter, die um ihre Mithilfe gebeten werden, sogar viel besser an, meint das bayerische LKA.

Etwa einmal im Monat muss Benner ein Phantombild zeichnen. Meist am Computer, aber die Grafikerin versucht, zu Stift und Papier zurückzukehren. (Foto: Catherina Hess)

Weshalb für Waldy Benner, anders als für ihre Kollegen zum Beispiel in Baden-Württemberg, gilt: Um Fotorealismus geht es nicht. Sondern um Impressionismus. Und um Fahndungserfolge. Immerhin, so heißt es beim LKA, führe jedes vierte Phantombild dazu, dass der Gezeichnete überführt wird.

"Es genügt der Typ", sagt sie. "Augen auseinanderstehend? Südländisch?" An der Wand gegenüber von Benners Schreibtisch hängt dazu eine bunte Tafel, die "Typen" sind darauf illustriert. Europäisch, asiatisch, indianisch, nord-, nordost- oder südafrikanisch, und weil es dann ja eh schon zum Kringeln politisch unkorrekt ist, wird jede Weltregion noch von einem Mann und einer Frau in der denkbar unschmeichelhaftesten Fotopose repräsentiert, in einer Aufnahme, welche Amerikaner "mug shot" nennen würden: direkt nach der Verhaftung durch die Polizei. Zerzauste Haare, Augenringe, wütender Blick in die Kamera: Dies zum Beispiel ist der europäische "Typ".

Dass Waldy Benners Bilder am Computer entstehen, bedauert sie. Nicht nur, weil eine Phantombildzeichnung per Hand wesentlich präziser wird. Sondern auch aus persönlichen Gründen: Die Liebe zum Zeichnen hat Benner erst zu diesem Beruf geführt. Das Direkte von Handarbeit schätzt sie. Benner lernte Mediendesign in einer Werbeagentur, da war schon fast nur noch Computerarbeit gefragt.

Nach dem 11. September 2001 waren die Aussichten in dieser Branche aber düster, das Landeskriminalamt schaltete da gerade neue Stellenanzeigen: Gesucht wurden Menschen mit einem Gefühl für Formen und Farben, um die polizeiliche Spurensicherung einfallsreicher zu machen. Fortan beugte sich Benner mit Lupe und Puderpinsel über Geldscheine. In der umzäunten Festung des Landeskriminalamts in der Maillingerstraße bedampfte sie Pistolengriffe mit Sekundenkleber, suchte darauf nach Fingerabdrücken. "Da braucht man ein gutes Auge", sagt sie. Da helfen Computer wenig.

Seitdem sie vor drei Jahren in der Maillingerstraße die begehrte Stelle der Phantombildzeichnerin übernehmen konnte - das heißt eigentlich: die Stelle der LKA-Graphikerin, die etwa einmal im Monat auch ein Phantombild zeichnet -, versucht Waldy Benner, zu Stift und Papier zurückzukehren.

Es gibt in Deutschland nur zwölf Phantombildzeichner, die mit der Hand arbeiten. Aber es werden mehr. Ein sehr erfahrener Phantombildzeichner aus Niedersachsen bietet Workshops an, Waldy Benner zählt zu den eifrigen Schülerinnen. Vielleicht schon in diesem Jahr könnte es so weit sein, dass Verbrechensopfern in Bayern der Blick in die 310 Augenpaare erspart bleibt.

© SZ vom 11.01.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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