Peter-Prozess:Verlassen von sich selbst

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Kein Erschrecken über die eigene Tat, kein Wort des Bedauerns, keine Reue - der mutmaßliche Mörder des neunjährigen Peter aus München, Martin P., wirkt wie eine Maschine.

Stephan Handel

Er sitzt, und er starrt. Die Schultern leicht eingesunken, den rechten Mundwinkel etwas nach oben gezogen, als habe er Zahnschmerzen. Die Hände im Schoß, leicht berühren sich die Fingerspitzen. Martin P. trägt blau, die blaue Jacke und die blaue Hose, die sie im Gefängnis ausgeben. Ein Richter fand das vorhin gerade komisch: "Das hab' ich schon lange nicht mehr erlebt, dass einer in Knast-Kluft vor dem Schwurgericht erscheint."

Denn meistens wollen sie, einmal noch, einen guten Eindruck machen, die Mörder, die Totschläger, die Schwerverbrecher, wenn sie hier hereingeführt werden in den größten Saal des Justizzentrums, links von der Richterbank die Tapetentür, dahinter der Gang, hinunter zu den Transportzellen. Wenn die Tapetentür sich öffnet, dann blitzen die Blitzlichter, klicken die Verschlüsse der Fotoapparate, filmen die Filmkameras: Das wöchentliche Monster steht zum Abschuss bereit, und es will, meistens, gut dabei aussehen. Kein Mörder sein, kein Totschläger. Ein Mensch.

Nicht Martin P. Er steht, am Mittwoch zum Prozessauftakt, linkisch, tapsig, vor seinem Platz und lässt sich fotografieren in seinem blauen Zeug. Die Hände hängen herunter, keine unwillkürliche Geste der Verlegenheit, wie sie doch normal wäre, wenn einer so vorgeführt wird: dass er sich durchs Haar fährt, am Ohrläppchen zupft, am Hemdenknopf nestelt. Die Hände gehören zu diesem Körper, aber der Mensch in dem Körper weiß davon nichts. Martin P. schaut aus wie ein Heizungsmonteur, den sie von der Arbeit weggeholt haben, und der nicht so recht begreift, was ihm eigentlich gerade geschieht. Dann setzt er sich hin und beginnt zu reden. Plötzlich wird es sehr kalt im Saal.

Er erzählt seine Tat so distanziert, so unbeteiligt, als spreche er über das Kantinenessen. Sagt monströse Sätze ohne ein Zucken, ohne ein Schlucken, ohne Mitleid, ohne Erschrecken: "Ich wollte Peter vergewaltigen, bevor er tot ist." - "Ich habe Müllsäcke gekauft, dass ich den Peter drin verpacke, nachdem ich ihn getötet habe." - "Dann habe ich ihn festgehalten, bis er tot war."

Peter A., neun Jahre alt - ein schüchterner Junge, der Probleme mit dem Sprechen hatte und deshalb an einer Förderschule unterrichtet wurde. Am 17. Februar holt Martin P. ihn vom Schulbus ab, sagt, Peters Mutter habe ihn beauftragt, Dann nimmt er den Jungen mit auf sein Zimmer in der städtischen Unterkunft an der Wasserburger Landstraße. Er streichelt ihn, er zieht ihn aus, streichelt ihn wieder. Er würgt ihn, aber die Kraft geht ihm aus. Da zieht er ihm eine Plastiktüte über den Kopf, bindet sie am Hals mit einer Schnur zu und wartet, bis Peter erstickt ist. "Die Tötung erregte mich zusätzlich", sagt Martin P. auf der Anklagebank.

Zutiefst verletzte Person

Er spricht in abstrakten Begriffen, die nichts mit ihm zu tun haben, durch die er sich absetzt von seiner Tat und von sich selbst: "Ich habe an seinem Geschlechtsteil manipuliert" - wer redet so? Schon einmal hat Martin P. einen Menschen getötet, einen 11-jährigen Jungen zuerst missbraucht und dann erstochen, mehr als 70 Stiche mit einem Butterfly-Messer. 1994 war das in Regensburg, und neuneinhalb Jahre saß er deswegen im Gefängnis. Dort wurde mehrere Jahre versucht, ihn zu therapieren, und diese Sprache ist es, die Martin P. jetzt verwendet - die Sprache der Therapeuten, die neutral ist, hinter der er sich verstecken kann. In der er "manipulieren" sagen kann anstatt "vergewaltigen". "Arme fixieren" statt: fesseln, foltern. "Tötung" statt: Mord.

Am zweiten Verhandlungstag ist eine Psychologin als Zeugin geladen; sie hat mit Martin P. kurz vor und nach seiner Haftentlassung gearbeitet, hat versucht, ihm zu helfen, neue Menschen kennen zu lernen, denn Einsamkeit habe er beklagt und seine Schüchternheit. Worüber könne er denn reden mit frischen Bekanntschaften? Musik, Sport, Hartz IV. Wo könne er jemanden kennenlernen? Nicht in der Kneipe, denn er hat ja kein Geld. Beim Sport. Schwimmen, Volleyball. Dann los. Aber Volleyballspielen geht nicht, wegen der Knie, und Schwimmen soll er auch nicht übertreiben, sagt der Arzt.

Während der mehr als einstündigen Aussage der Psychologin sitzt Martin P. da und starrt. Und bewegt sich keinen Millimeter. Manchmal blinzelt er, manchmal zuckt eine Schulter, aber der restliche Körper ist völlig regungslos - als würde er ihn nicht spüren, als würde er sich selbst nicht spüren, als könnte ihm nichts unbequem werden, weil das ja zwei verschiedene Sachen sind, sein Körper und er. Der Fremde in mir.

Sehr ungewöhnlich sei gewesen, sagt die Psychologin, dass der Proband gleich beim ersten Gespräch ausgesprochen offen über seine Phantasien geredet habe: Wenn er einen erwachsenen Mann kennen lerne, dann wolle er mit dem kuscheln, zärtlich sein, tiefe Gespräche führen. Bei Kindern jedoch, da denke er nur an Sex. Macht ausüben. Das Kind zu manipulieren, bis es macht, was er will. Bei Erwachsenen, da habe er Angst, einen Korb zu bekommen. Außerdem wisse er nicht, was er sagen soll. Die Psychologin übt mit ihm Kommunikationsregeln: Aufmerksam sein. Zuhören. Interessiert nachfragen - "Dinge, die ihm offensichtlich fremd waren", sagt die Psychologin.

Sie nennt das, was sie ihrem Patienten zum Üben zwischen den Gesprächsterminen aufgetragen hat, "Aufgabe", "Hausaufgabe". Aber Martin P. fühlt sich bevormundet, will tun, was er möchte, sich nichts mehr vorschreiben lassen. Will wieder sein eigenes Leben leben, in den Tag hinein, keine Pflichten. "Er nahm das, was wir ihm anboten, nicht als wertvoll an", sagt die Psychologin. Und nein, sie habe keinerlei Empathie bei ihm feststellen können, die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, seine Gefühle zu teilen und ihn so zu verstehen: "Es interessiert ihn nicht, was er bei anderen auslöst."

Aller Voraussicht nach wird Martin P., der im Sommer 29 Jahre alt geworden ist, nie mehr in Freiheit leben: Lebenslange Haft, Sicherungsverwahrung, Einweisung in die Psychiatrie. Ist es möglich, einen solchen Menschen zu verstehen? Denn das ist er ja trotzdem, bei all dem Unfassbaren, das er getan hat - ein Mensch. Langsam schält sich im Prozess eine zutiefst verletzte Person heraus, unsicher, einsam, schüchtern, verlassen von der Welt und von sich selbst. Es fällt schwer zu begreifen, wie sich in dieser Verlassenheit ein Schalter umlegte. Wie aus dem menschlichsten aller Wünsche - dem Wunsch, geliebt zu werden - der Wunsch wurde, andere Menschen, kleine Kinder zu unterdrücken, zu quälen, zu töten.

Das ändert selbstverständlich nichts an seiner Schuld. Und das ändert nichts daran, dass Martin P. von sich spricht, als rede er über einen Menschen auf einem anderen Planeten - kein Wort des Bedauerns, keine Reue, kein Erschrecken über sein Tun. In der Haft, das hat er der Psychologin erzählt, sei er selbst verprügelt und sexuell missbraucht worden. Er meinte, sagt sie, da habe er zum ersten Mal gemerkt, was er seinen Opfern angetan habe.

Aber sicher ist das nicht.

© SZ vom 16. Dezember 2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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