Not in der Großstadt (4):Sieben Köpfe, ein Einkommen

Lesezeit: 6 min

,,Die Kinder sind es wert, dass wir uns einschränken'': Familie Roth verzichtet auf jeglichen Luxus, und doch beklagt sie sich nicht.

Monika Maier-Albang

Kind Nummer eins und Kind Nummer zwei schienen Maria Roth (Name der Familie geändert) ein kalkulierbares Risiko zu sein. Sie studierte Kunstgeschichte, die Oma half. Mit Abschluss des Studiums war Maria Roth 26 Jahre alt und Mutter zweier Kleinkinder. ,,Da wird sich doch ein Arbeitgeber finden, der mich einstellt'', hatte sie gedacht. Fand sich aber keiner.

Frau Roth nahm stattdessen Studentenjobs an, bekam Praktikumsplätze angeboten, ,,für Null und Nix''. Kind Nummer drei folgte aus ,,Protest'', wie sie sagt. Und dann war es, was den Berufseinstieg anbelangt, auch schon egal, als sich Nummer vier ankündigte. Nur gut, dass alle vier Mädchen seien, sagt die Mutter lachend. ,,So lassen sie sich besser stapeln.''

Nie würden die Roths darüber lamentieren, dass sie mit wenig Geld auskommen müssen. Sie sind der Ansicht, dass ein intaktes Familienleben, dass Geborgenheit und Glück keine Frage des Geldes ist. Doch, um es mit dem Musical Anatevka zu sagen, das Maria Roth zitiert: Armut ist keine Schande, aber wäre es denn schlimm, über ein wenig mehr Wohlstand zu verfügen?

16 Stunden im Labor

István Roth ist Zahntechniker. In seinem Beruf, sagt der gebürtige Ungar, sei Ausbeutung üblich. In guten Jahren erarbeitete er ein Bruttogehalt von monatlich 4000 Euro, wobei er damals täglich zwischen 12 und 16 Stunden im Labor war. Mit Headset auf dem Kopf, um beim Telefonieren keine Zeit zu verlieren. Und ohne Mittagspause. ,,Die mitgebrachte Brotzeit habe ich nebenbei reingeschoben.''

Im letzten Jahr arbeitete István Roth nur noch zehn Stunden pro Tag - für ein Nettogehalt von 1700 Euro. Plus 649 Euro Kindergeld. Minus 1100 Euro Warmmiete für die Wohnung in Schwabing. Blieben zum Leben 1250 Euro im Monat. Nicht viel für eine sechsköpfige Familie, schon gar nicht in München.

Die Mädchen, die zwischen drei und zwölf Jahren alt sind, schlafen je zu zweit in einem Zimmer. Hundert Quadratmeter groß ist die Wohnung und mit Bücher vollgestopft. An der Wand im Wohnzimmer hängen Aquarellbilder, von Frau Roths Großvater gemalt.

Eine bürgerliche Wohnung mit einem Hauch aus Studentenzeiten. Und doch fragen sich die Roths momentan, was sie eigentlich vom vielbeschriebenen Prekariat trennt. ,,Unsere Bildung vielleicht,'' sagt István Roth mit einem Anflug von Sarkasmus, der während des langen Gesprächs nur dieses eine Mal spürbar ist.

Wenn Maria Roth Lebensmittel einkauft, tut sie das nur bei Plus, Aldi, Lidl, obwohl andere Geschäfte näher wären. Und: ,,Einkaufen bedarf der Konzentration'', sagt sie. Jedes Sonderangebot muss genutzt werden, sie plant im Voraus, wann Tchibo Kindersandalen hat.

Kleidung kauft sie so gut wie nie neu, fast alles stammt von Kinderkleider-flohmärkten. Und wenn sie zu H&M geht, dann nur, um gezielt ein fehlendes Teil zu ergänzen. Meist ist sie die einzige, die keinen Kleiderberg zur Kasse trägt. Ein Kleid, ein T-Shirt zu kaufen, ,,nur weil es hübsch ist, das geht halt nicht''.

Die Roths haben kein Problem damit, gebrauchte Kleidung zu tragen oder zuzugreifen, wenn Rollerblades zum Mitnehmen auf der Mülltonne stehen. Das ist Einstellungssache. Und es zeugt von einem Selbstbewusstsein, das armen, ausländischen Familien mit niedrigerem Bildungsniveau oft fehlt.

Drei Viertel der Familien, die zu Sabine Simon in die Schwangerenberatung im Evangelischen Beratungszentrum an der Landwehrstraße kommen, haben ,,Migrationshintergrund'', wie sie es nennt.

Das birgt eigene Probleme. Männer, die sich als Alleinversorger definieren und aggressiv werden, wenn es mit der Versorgung der Familie nicht klappt. Junge Familien, für die es undenkbar wäre, einen gebrauchten Kinderwagen anzunehmen, die sich mit der Einrichtung oder bei der Hochzeit hoch verschulden, um nach außen den Schein zu wahren.

Und noch etwas ist Sabine Simon aufgefallen. Seit mit der Einführung von Hartz IV Verhütungsmittel nicht mehr übernommen werden, kommen zunehmend Migrantinnen, die ungewollt schwanger sind. Weil ihre Männer sich weigern, Kondome zu benutzen.

Und dann gibt es die Familien in der Beratung, die Sabine Simon früher kaum zu Gesicht bekommen hat: Mittelstandsfamilien mit kleinem Einkommen, die es einfach nicht mehr schaffen in der reichen Stadt. Selbstständige sind darunter, bei denen durch das erste Kind ein Einkommen entfällt. Heilpraktiker, Altenpfleger oder Sozialpädagogen-Kollegen.

,,Das Arbeitslosengeld ist einfach zu niedrig für eine Stadt wie München'', sagt auch Brigitta Geißler-Gittel, die beim Sozialdienst katholischer Frauen in der Marsstraße Familien berät. ,,Der alte Spruch: Wo drei Kinder satt werden, wird auch noch ein viertes satt, gilt heute nicht mehr. Der untere Rand der Mittelschicht bröckelt längst.''

Die Umstellung von der Sozialhilfe aufs Arbeitslosengeld spüren die Beraterinnen hautnah. Ein Viertel mehr Nothilfe-Anträge hat Sabine Simon im letzten Jahr bei Stiftungen gestellt. Wenn sie Kleider ihres Sohnes in die Arbeit mitnimmt und im Gang auslegt, sind sie am selben Tag weg.

Auch den Organisatorinnen von Kinderkleiderflohmärkten fällt auf, dass sich seit einiger Zeit selbst gebrauchte Schuhe verkaufen lassen, die früher niemand haben wollte. Vor allem die ständig steigenden Nebenkosten machten den Familien zu schaffen, sagt Simon. Und das Elterngeld sei ja ,,eine schöne Sache'' - ,,aber nur für die, die vorher schon gut verdient haben''.

Manches sei besser in der Stadt als im Umland, sagt Simon. Etwa, dass München armen Familien 800 Euro Baby-Erstausstattung zahle, während Kommunen im Landkreis 500 oder auch nur 350 Euro geben.

Und doch bleibe das Problem, dass die Mieten für Geringverdiener zu teuer sind. Vier irakische Familien hat Sabine Simon im letzten Jahr beraten, die alle der Stadt den Rücken gekehrt haben.

Nach Köln oder Duisburg sind sie gezogen. Bauingenieure, Ärzte waren sie in der Heimat, gebildete Leute, die hier keine Perspektive für sich gesehen haben. Einer sagte ihr zum Abschied: ,,München ist nicht der richtige Ort für jemanden, der ganz unten ist.'' ,,Ist das nicht traurig?'', fragt Simon.

Weg von München? Auch die Roths haben sich das überlegt. Ans Dachauer Hinterland hatten sie gedacht. Da sind die Mieten noch relativ günstig. Aber ob es sich rechnet?

Die Benzinkosten, wenn der Mann in die Arbeit pendelt, man die Kinder überall abholen, mit dem Auto zum Einkaufen fahren muss. Und Maria Roth ist in Schwabing aufgewachsen. Es habe, sagt sie, ,,Jahre gedauert, uns eine Infrastruktur aufzubauen''.

Die Schule, der Kindergarten, die Bücherei - alles fußläufig. Freunde. Die Pfarrei, in der man verwurzelt ist. Und noch einen Vorteil habe die Stadt gegenüber dem Dorf: ,,In Schwabing fragt niemand nach, was du hast, welches Auto du fährst'', sagen Maria und István Roth. Das gefällt ihnen an der Stadt.

Was ihnen nicht gefällt, sind die Lebenshaltungskosten und die permanente Angst vor einer Mieterhöhung. Was ihnen Sorge bereitet ist der Umstand, nichts sparen zu können.

Und es frustriert sie die Aussicht, dass es womöglich auf absehbare Zeit nicht besser wird. Er habe, sagt István Roth, ,,wirklich hart gearbeitet''. An allen Feiertagen außer an Weihnachten und Ostern war er im Labor. Selbst dann, wenn er eigentlich krank war.

Dann kam der Chef, sagte, er erwarte noch mehr ,,Entgegenkommen''. Arbeit auch am Wochenende. Die Chinesen produzierten ja so billig. Da war die Globalisierung bei den Roths in Schwabing angekommen. ,,Du stehst am Abgrund'', dachte sich István Roth. Und weil er nicht geschubst werden wollte, sprang er selbst.

Vor vier Monaten kündigte der 42-Jährige seinen Arbeitsplatz. Momentan lebt die Familie von Arbeitslosengeld und Wohngeld - und hat fast genauso viel, genauso wenig Geld wie vorher. ,,Es ist traurig wenn man erkennen muss, dass man jahrelang auf Sozialhilfeniveau gearbeitet hat'', sagt István Roth. Nur einen Vorteil habe es: ,,Man fällt nicht so tief.''

In den Tierpark? Zu teuer.

Wie die Roths es trotzdem schaffen? Sie fahren mit dem Rad. Am Wochenende dorthin, wo die freie Zeit nichts kostet: Rollerbladen im Olympiapark, ins Museum ,,Mensch und Natur'' oder in die Pinakotheken am Sonntag, wenn der Eintritt einen Euro kostet. Ins Sea Life? Zu teuer. In den Tierpark? Zu teuer. Die Mädchen ministrieren, die Eltern singen im Kirchenchor. Das kostet nichts, und man hat nette Gesellschaft.

Ab und an überlegen sie, wie das Leben wohl wäre mit einem Kind. Sie hätten vielleicht ein Reihenhaus, ein schönes Auto. Würden ,,reisen nicht nur auf der Landkarte''. Vielleicht auch mal ins Restaurant gehen.

Dann sagen sie sich: ,,Die Kinder sind es wert, dass wir uns einschränken.'' Maria Roth schmerzt es nur, dass auch die Kinder sich einschränken müssen. Reiten würden die beiden Großen gern, in Eschenried waren sie schon mal.

Da hat die Stunde 14 Euro gekostet, 14 Euro mal zwei. Das ging nicht mehr. Da habe sie, sagt Frau Roth, ,,schon geschluckt, als ich den Mädchen das sagen musste.''

Die Perspektive? István Roth möchte umsatteln, hat Arbeit in Aussicht. Und falls es doch nicht klappt mit dem besseren Verdienst, haben sie fürs Alter schon Pläne. Auswandern nach Ungarn. Es klingt, als meinten sie es ernst.

© SZ 21.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: