Not in der Großstadt (18):"Ich wusste gar nicht, wohin damit"

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Schuldenberge und scheinbar ausweglose Situationen. Wenn nichts mehr geht, zeigen ehrenamtliche Betreuer wie Erika Zormaier: Es gibt immer einen Weg.

Monika Maier-Albang

Wer die Wohnung von Anna Braun betritt, steht erst einmal einer Kühltruhe gegenüber. Die Truhe ist umringt von Regalen, einem Buggy, einer fahrbaren Einkaufstasche, einem Berg Kinderkleidung. Sie macht den Zugang zur Küche, in der Frau Braun sich ohnehin zwischen Herd und Tisch durchzwängen muss, noch enger.

Doch auf die Kühltruhe will Anna Braun nicht mehr verzichten. Hier liegen auf Eis all jene Lebensmittel, die sie von der Münchner Tafel geschenkt bekommt, dann mit Hilfe der Einkaufstasche und eines Rucksacks nach Hause schleppt, dort portioniert und einfriert. Denn das Essen muss reichen bis zur nächsten Ausgabe in zwei Wochen.

Die "Familienfrau"

Anna Braun (Name geändert) ist nicht wählerisch, sie nimmt die Äpfel auch mit braunen Flecken und die Bananen, die überreif sind. Osterhasen hat sie zuletzt gehortet, die gerieben und eingeschmolzen zum Geburtstag der Tochter ein Schokoladenfondue ergeben sollen. Anna Braun weiß sich also zu helfen. Und doch stand die allein erziehende Mutter dreier Kinder am Ende jedes Monats oft ohne einen Euro da - bis Erika Zormaier vor knapp einem Jahr zu ihr stieß. Frau Zormaier hat früher als Hauswirtschaftsleiterin gearbeitet, ist jetzt "Familienfrau", wie sie sagt, und sie berät im Ehrenamt verschuldete Familien.

Anna Braun weiß um ihre Schwächen. Manchmal gibt sie nach, weil sie den Kindern eine Freunde machen will. Manchmal lässt sie sich bei eBay zur Schnäppchenjagd verleiten. "Ich kann das Geld nicht zusammenhalten", sagt sie. "Kaum ist es im Geldbeutel, ist es auch schon weg." Das geht auch anderen so.

Doch Anna Braun, die Sozialhilfe bekommt - "Sicherung zum Lebensunterhalt" wie der Fachterminus heißt - kann nach Abzug der Miete pro Monat eben nur rund 1000 Euro ausgeben. Ein 100-Euro-Geburtstagsgeschenk für die Tochter ist da einfach nicht drin. "Sie haben das Geld nicht," sagt Zormaier mit Nachdruck. Und: "Meine Kinder bekommen auch nicht so teure Geschenke."

Als Erika Zormaier kam, verschaffte sich die Helferin zunächst einen Überblick über Frau Brauns Finanzen: Was haben wir, was kommt an Fixkosten jeden Monat auf uns zu? Wie hoch sind die Schulden bei Quelle, Vorwerk, Telekom, Yello Strom, dem Finanzamt? Seit die Schuldnerberatung und Erika Zormaier Anna Braun zur Seite stehen, zahlt diese ihre Schulden in niedrigen Raten ab. Wäre da nicht noch der Kredit über 34683,79 Euro, den ihr geschiedener Mann ihr hinterlassen hat, könnte sie es wohl aus eigener Kraft schaffen.

"Das kriegen wir schon hin"

Als Erika Zormaier an diesem Tag in die Wohnung kommt, reicht Anna Braun ihr das Schreiben einer Rechtsanwaltskanzlei: "Zwangsvollstreckung" steht fett gedruckt darauf. Weiter unten ist zu lesen, dass Frau Braun mit Kontopfändung gedroht wird, sollte sie den Betrag nicht umgehend zurückzahlen. "Wenn die das machen, kann ich mich gleich aufhängen", sagt Anna Braun. "Das kriegen wir schon hin", beruhigt Erika Zormaier.

Dann sitzen die Frauen am Küchentisch, eine Stunde lang, beratschlagen, was alles zu tun ist - wegen der Androhung, wegen des erhofften Kindergartenplatzes für den Jüngsten, der behindert ist, und darüber, wo man günstig neue Türklinken bekommt. Ein Schreiben an den Anwalt muss aufgesetzt werden. Zormaier wird Rücksprache halten mit der Schuldnerberatung, schließlich ist sie keine Juristin.

Früher, als Anna Braun noch allein mit allem zurechtkommen musste, hätte sie den Brief wohl zu den anderen auf den Stapel gelegt, der den Computer im Wohnzimmer fast verdeckt. Sie habe, erzählt Braun, den Stapel regelmäßig nach "Wichtigem" und "weniger Wichtigem" sortiert. Nur beantwortet hat sie die Briefe nicht.

Allein die Tatsache, dass es jetzt den festen Termin mit der Beraterin gibt, sei ihr eine Hilfe, sagt Braun. Sie schickt die Antwortbriefe inzwischen selber los. Erika Zormaier nimmt ihr anderes ab, redet mit Inkassobüros, stellt Stiftungsanträge, begleitet sie zu Ämtern und Institutionen. Wenn die Beraterin dabei sei, reagiere das Gegenüber dort anders, freundlicher, sagt Braun.

Die "Hauswirtschaftliche Beratung für verschuldete Familien" ist ein Gemeinschaftsprojekt des Sozialreferats und des Vereins für Fraueninteressen. Die städtische Schuldnerberatung in Person von Christa Kaindl übernimmt die fachliche Betreuung der Helfer. 34 sind es zur Zeit, darunter vier Männer. Frauen in der Familienphase, die Zeit erübrigen konnten, waren die ersten, die als Berater anfingen.

Empathie statt Moralisieren

Heute kommen zudem Vorruheständler, die eine sinnvolle Aufgabe suchen. Banker, Siemens-Beschäftigte, "sehr gute Leute darunter", sagt Kaindl. Aber eben doch nicht alle geeignet für den Seitenwechsel. Man müsse sich "einfühlen können in die Situation der Klienten, Empathie mitbringen, nicht moralisieren", sagt Kaindl. Und man braucht Geduld.

Auch Erika Zormaier hat gelernt zu akzeptieren, dass man als Helfer manchmal an Grenzen stößt. Wenn bei einer Familie der Fernseher den ganzen Tag läuft, die Mutter eine nach der anderen raucht, die Matratze im Kinderzimmer nach Urin stinkt und die Mutter ihr mit Ausflüchten kommt. Dann kann sie nur argumentieren, aber nicht vorschreiben.

Zwar wird zwischen Berater und "Klient" ein Vertrag geschlossen, der die Verbindlichkeit der Hilfe dokumentieren soll. Aber die ist eben freiwillig. Solange das Kindeswohl nicht gefährdet ist, muss auch die zuständige Sozialarbeiterin nicht eingreifen. Letztlich kann die Helferin nur versuchen, andere Wege aufzuzeigen. Sie kann mit der Familie Ausflüge machen, eine Fahrradtour oder einen Besuch im Museum - um zu zeigen, wie man auch mit wenig Geld Spaß haben kann. Oder sie kann zeigen, dass ein Picknick mindestens so schön ist wie der Besuch bei McDonalds. Vom "Einblick in eine andere Welt" spricht Kaindl. Das trifft wohl für beide Seiten zu.

Um Helfer zu finden, muss Kaindl inzwischen nicht mehr werben. Die Anwärter kommen von sich aus, oft über die Freiwilligenagentur Tatendrang. Die Anzahl ist begrenzt, da die Männer und Frauen professionell betreut werden müssen. Einmal im Monat treffen sich die Helfer, um mit Christa Kaindl Rechtliches oder Fragen zur Familiendynamik zu besprechen. Der Bedarf an Helfern wäre größer als die Gruppe jetzt ist: Die Familien warten zwischen einem halben und einem Jahr, bis ihnen ein Berater zugeteilt wird.

Zwei Jahre Zeit sollte ein Berater mitbringen, sagt Kaindl. Schließlich wird er, wenn es gut läuft, zu einer Vertrauensperson der Familie - und soll deshalb möglichst nicht ausgewechselt werden. Zwei bis drei Familien hat jeder Helfer im Schnitt, die er anfangs auch schon mal zweimal pro Woche besucht. Dass man miteinander kocht oder einkaufen geht, sei der zweite Schritt, sagt Kaindl. Das Führen des Haushaltsbuchs ist dann was für "Fortgeschrittene".

Erika Zormaier wird mit Anna Braun demnächst eine Rechtsberatung aufsuchen, um die Kontopfändung abzuwenden. Danach wollen die beiden Frauen fortfahren, Brauns Wohnung zu entrümpeln. Einen neuen Kleiderschrank hat Anna Braun sich gerade organisiert, sie hat Wände gestrichen, ihre Toilette mit Muschel- und Seepferdchendekor verziert. Zwei Stockbetten sind bei Ikea bestellt, nur das Geld für den Transport fehlt noch. Die alten Betten waren in Einzelteile zerfallen. "Ich wusste gar nicht, wohin damit", sagt Braun. Da hat Zormaier die Betten kurzerhand in ihr Auto gepackt und zum Sperrmüll gefahren.

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