Neu lernen:Wissen für alle

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Diskutieren über bessere Bildung: Melanie Hörth (links) leitet den Münchner Ableger des Projekts "Edulabs", das offene Bildungsangebote fördern und die Beteiligten vernetzen will. (Foto: Florian Peljak)

Offene Bildungsmaterialien sollen für mehr Chancengleichheit bei Kindern sorgen, das will auch die Politik fördern. Doch der Einsatz der frei zugänglichen Ressourcen stößt im relativ starren Schulsystem auf viele Hindernisse

Von Robert Meyer

An der Bildungsrevolution wird in Hausschuhen gearbeitet. Betritt man die Geschäftsräume von Serlo, muss man zuerst die Straßenschuhe ausziehen. Mitten im Raum steht ein großer Arbeitstisch für alle Mitarbeiter, dahinter einige Sofas, gelbe, rote, pinke und grüne Post-its kleben an der Wand. In einem Sendlinger Keller versucht das Team rund um Serlo-Gründer Simon Köhl, frischen Wind in das verkrustete Bildungssystem zu bekommen. Auf ihrer Internetplattform bieten sie kostenlose und lizenzfreie Bildungsmaterialien für alle Menschen an - sogenannte Open Educational Resources (OER). Sie sollen Bildungschancen für Kinder unabhängiger vom Kontostand der Eltern machen.

Nach Angaben von Serlo lernen auf der Plattform monatlich mehr als 800 000 Schüler Mathematik, Biologie oder Chemie. Doch wie wichtig freie Bildungsmaterialien mittlerweile sind, lässt sich nicht nur an den Nutzerzahlen von Serlo ablesen. Auch die Politik hat das Thema entdeckt. Internationale Organisationen wie die Unesco und die Europäische Union sprechen sich dafür aus, solche Materialien zu unterstützen. Die deutsche Kultusministerkonferenz empfahl bereits 2015, die Potenziale der freien Lerninhalte "auch für Deutschland gezielt nutzbar" zu machen. Und auch die schwarz-rote Bundesregierung will laut Koalitionsvertrag frei zugängliche Bildung "im Rahmen einer umfassenden Open Educational Resources-Strategie" fördern und etablieren.

Das Prinzip solcher freien Materialien lässt sich am Beispiel von Serlo erklären. Jeder Nutzer kann Lernmaterialien auf die Online-Plattform stellen, sie auf Qualität überprüfen, anpassen und weiterverbreiten. Damit sollen auch ärmere Schüler Zugang zu Bildung bekommen, die nicht in klassischen Schulbüchern stattfindet. Dahinter steckt die Hoffnung, eine neue Lernkultur zu etablieren. "Weniger Frontalunterricht, bei dem alle Schüler den gleichen Stoff zur gleichen Zeit und auf die gleiche Art und Weise lernen", erklärt Serlo-Gründer Simon Köhl. Schülern solle gezeigt werden, wie sie Probleme selbständig lösen und gemeinsam mit anderen lernen können. Susanne Friz vom Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht in Grünwald hat bis vor Kurzem ein Fortbildungsprogramm über "Open Educational Resources" für Lehrer geleitet. Diese offenen Bildungsmaterialen seien einsetzbar, bilanziert Friz nach Ende des Projekts. "Sie fördern das gemeinsame Lernen von Schülern und Lehrern."

Die Kultusministerkonferenz kam schon vor drei Jahren angesichts einer immer vielfältigeren Schülerschaft zum Schluss, dass es "einen zunehmenden Bedarf an differenzierten und anpassbaren Lernmaterialien" gebe. Doch diesen Herausforderungen sei das heutige Schulsystem nicht gewachsen, sagt Sonja Moser vom Pädagogischen Institut München. "Niemand bezweifelt, dass die Lehrmethoden, die wir an Schulen haben, nicht greifen", so Moser. "Aus der Bildungsforschung weiß man das alles." Doch die Revolution im Bildungssystem von außen sei schwierig. "Für einen Wandel braucht es Geld, mehr Lehrkräfte und bessere Lernbedingungen."

Auch für freie Lernmittel ist die Finanzierung ein Problem. Derzeit beziehen solche Projekte ihr Geld hauptsächlich aus öffentlichen Töpfen oder Spenden. "Die Leute können ja nicht umsonst arbeiten", sagt Melanie Hörth. Sie leitet den Ableger der "Edulabs" in München, die einst von der Berliner Open Knowledge Foundation ins Leben gerufen wurden. Man habe mit den Edulabs nicht nur "eine Plattform, auf der man Projekte sichtbar machen kann", sagt Melanie Hörth. Edulabs solle zudem ein Forum sein, in dem sich Menschen vernetzen, die freie Bildungsmaterialien produzieren möchten. Das erste Treffen fand im vergangenen Juli in der Isarvorstadt statt. Die Leute saßen Knie an Knie und in zweiter Reihe, man diskutierte bis tief in die Nacht über die Zukunft der Bildung. Doch die OER-Szene ist noch klein, um die 20 Interessierten kamen zum ersten Treffen. Vor allem die Vernetzung von Lehrern, Schülern und Informatikern, die mit ihren Fähigkeiten solche Materialien erstellen wollen, ist eine Herausforderung.

"Open Educational Resources" stehen aber vor einem weitaus größeren Problem: Sie wollen in ein Bildungssystem Einzug halten, das nicht für sie gemacht ist. Freie Bildungsmaterialien sind im Kern dynamisch und sollen sich stets weiterentwickeln, treffen aber auf starre Lehrpläne. Dadurch wird die Lizenzierung durch Schulbehörden unmöglich, und Lehrer können sich nie sicher sein, ob sich die freien Materialien hundertprozentig mit dem Lehrplan decken. "Wenn ich als Lehrkraft Materialien abseits der vorgegebenen Lernmittel nutzen möchte, begebe ich mich auf einen eigenen Pfad", sagt Sonja Moser.

Die Qualität der frei zugänglichen Materialien sei meistens nicht das Problem. "Die Frage ist: Gibt es zum Beispiel einen Nebenaspekt der Kurvendiskussion, der auch im Lehrplan steht, aber in den Materialien nicht behandelt wird?", erklärt Sonja Moser. Am Ende komme es darauf an, dass eine Schulaufgabe nach Lehrplan geschrieben werde - und den optimal abgestimmten Inhalt würden eigentlich nur lizenzierte Schulbücher von Verlagen garantieren. "Das schulische Wissen und Lernen ist sehr stark an den Lehrplan gebunden", sagt Moser. "Das ist immer noch das Problem des Einsatzes freier Lernmittel."

Obwohl sie solche Mittel befürwortet, ist Sonja Moser skeptisch, ob sich freie Bildungsmaterialien flächendeckend durchsetzen können. "Der Weg über das Bildungssystem würde sehr langsam gehen", fürchtet die Leiterin des Fachbereichs Neue Medien/Medienpädagogik des Pädagogischen Instituts. "Der Einfallsweg der freien Lernmittel könnte aber über die Seite der Schüler verlaufen." Sie würden frei zugängliche Materialien vor allem als Nachhilfe oder zur Vorbereitung von Referaten nutzen. Auch Forscher der Freien Universität Berlin, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben, sind zurückhaltend. Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass "Open Educational Resources" ein Nischenphänomen bleiben.

Für Simon Köhl von Serlo kommt es darauf an, dass sich das Bildungssystem an sich wandelt. "Freie Lizenzen sind nur eine von hunderten Variablen im Schulsystem. Wenn ich aber weiß, was ich damit verändern will, können sie sehr mächtig werden. Offen nicht nur im Sinne von frei lizenziert, sondern im Sinne von mehr Selbstbestimmung für Schüler und Lehrer."

© SZ vom 15.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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