Nachruf:Der Wortgewaltige

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Er wusste alles über alle im Rathaus. Seine Kolumnen waren gefürchtet. Erich Hartstein, der langjährige Chefredakteur des "Münchner Stadtanzeigers", machte die Beilage zu einem unverzichtbaren Begleiter der Lokalpolitik. Zum Tod des SZ-Journalisten

Von Frank Müller

Wer in den Achtzigerjahren seine ersten journalistischen Gehversuche machte und bei einem Praktikum im Münchner Stadtanzeiger landete, dem bereitete der Chef persönlich die ersten Schlüsselerlebnisse. Erich Hartstein, der Chefredakteur der damals zweimal wöchentlich erscheinenden Beilage der Süddeutschen Zeitung, schien alles zu sein, was man als Nachwuchskraft von einem Redaktionsleiter erwartete oder auch nicht erwartete. Ein wortgewaltiger Mann, einer der sich in Szene setzte, der Emotionen lautstark freien Lauf ließ. Aber auch einer, der einem Chancen gab und einen machen ließ, wie unwissend man auch war.

Und im Vergleich zu ihm schien praktisch jeder weniger Ahnung zu haben. Erich Hartstein, das ist vielleicht sein hervorstechendstes Merkmal, dagegen wusste alles über alle im Münchner Rathaus. Und wenn das einmal nicht der Fall gewesen sein sollte, konnte er immer noch bestens den Eindruck absoluter Informiertheit erwecken. Kaum eine Rede, kaum eine Geburtstagsgirlande über ihn und nun auch nicht der Nachruf kommt an seinem berühmtesten Satz vorbei: "In der Münchner CSU gärt es." Solche Sätze schreiben auch andere Redakteure, allerdings fügen sie dann noch ein paar Sätze an, aus denen hervorgeht, warum es gärt. Wer gegen wen agiert, wer der Intrigant ist und wer am Ende als Sieger vom Platz geht. Hartstein dagegen machte am Ende einen Punkt und ließ nichts mehr folgen. Höchstens noch eine Formulierung wie: "Diejenigen, die es angeht, wissen Bescheid." Nicht ohne Grund lautete der Titel einer seiner Kolumnen: "Mit einem Satz".

Jahrzehntelang pflegte Hartstein seinen oft reduzierten, manchmal ruppigen Stil. Es war die Zeit des Münchner Wiederaufstiegs. Der Münchner Stadtanzeiger war ursprünglich ein Mitteilungsblättchen mit amtlichen Verlautbarungen in der Nachkriegszeit. Von 1950 an lag der Stadtanzeiger der SZ bei, 1959 übernahm der Süddeutsche Verlag die Rechte an ihm, Hartstein wurde Chef des Blatts. Schritt für Schritt baute er es aus und machte es zum Mitspieler im Rathausgetümmel. E.H., wie sein gefürchtetes Kürzel lautete, war eng dran an Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, mit dem er sogar regelmäßig schafkopfte. Hartstein und sein Blatt legten einen langen Weg zurück vom Verkünder amtlicher Nachrichten hin zum Mitgestalter dessen, was es zu melden gibt.

Hartstein legte sich wie kein zweiter Journalist ins Zeug für die Verlagerung der Messe von ihrem damaligen Standort auf der Schwanthalerhöhe auf das Riemer Flughafengelände. Es ist zumindest fraglich, ob dieses Großprojekt ohne ihn umgesetzt worden wäre. Als linke Kräfte in der SPD ihren Oberbürgermeistern Vogel und Georg Kronawitter das Leben immer schwerer machten, wurde Hartsteins Stadtanzeiger zu einem Schauplatz dieses Kampfes: Mit dem Abdruck immer neuer interner Papiere spitzte sich das SPD-Drama zu. Gleichzeitig waren die Kraftspiele in der Münchner CSU, in der es bekanntlich immer gärt, großes Thema für ihn. Oft war er mit dem Stand der Dinge unzufrieden. "Was ist mit dem Vorsitzenden der Münchner CSU, Erich Kiesl, los?", fragte Hartstein im Februar 1973 bissig in seiner Meinungskolumne. Das Thema war ihm noch einen zweiten Satz wert: "Wohin man auch kommt, man hört und sieht nichts von ihm." Punkt, Aus, Ende der Ansage.

Wer so schreibt, der polarisiert, und das auch noch gerne. E.H. führte viele Gefechte mit Politikern. Man verrät kein Geheimnis, wenn man feststellt, dass Hartstein mit mancher Geschichte auch innerhalb der SZ aneckte. Das ließ ihn nicht kalt, aber er gab sich furchtlos, zog sich seinen weißen Kittel über, der ihn ein bisschen wie einen Chefarzt aussehen ließ, und zog ab in den vierten Stock des SZ-Redaktionsgebäudes an der Sendlinger Straße, wo damals die Zeitungsseiten noch von Hand zusammen geklebt wurden.

"Unter den Münchner Journalisten gehörte Erich Hartstein zur selbstbewussten Sorte", so erinnerte sich der frühere SZ-Chefredakteur Gernot Sittner an den Stadtanzeiger-Chef. Und in Hartsteins Weltsicht sei es auch nicht so gewesen, dass der Stadtanzeiger dienstags und freitags der SZ beilag. Sondern umgekehrt.

Bis 1989 war Hartstein Chef des Blattes, das neben aller Rathauspolitik auch ein wichtiges zweites Standbein hatte: die Berichterstattung aus den Münchner Stadtvierteln. Die pflegte das Blatt mit Wechselseiten aus dem Münchner Norden, Osten, Süden und Westen - dies ist das Erbe des Stadtanzeigers, der in den Neunzigerjahren im SZ-Lokalteil aufging. Noch heute haben die Berichte aus den Stadtteilen großen Stellenwert in der SZ.

Für Hartstein war all sein Wirken immer auch geprägt durch frühe Erfahrungen. "Ich hab's als junger Mensch miterlebt: Diktatur und Terror sind nur möglich, wo Informationen vorenthalten werden." Am Sonntag ist Hartstein kurz vor seinem 92. Geburtstag in München gestorben.

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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