Mundlaut:Bayern in der Singkrise

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Musiker, Wissenschaftler und Staatsregierung wollen dem Volk wieder Lieder beibringen.

Hans Kratzer

Aus dem Wohnzimmer der Familie Maier in Taufkirchen dröhnen wilde Schlachtgesänge. Dabei hocken lediglich sechs Mädchen vor einem Fernseher. Auf dem Schirm ist der Sänger Falco zu erkennen, es ist ein alter Konzertmitschnitt seines Krachers ,,Rock me Amadeus''.

Allerdings hält jedes Mädchen ein Mikrophon in der Hand und singt aus Leibeskräften mit. Bei dem Karaoke-Spiel sollen die Kinder Klassiker aus der Pop- und Rockmusik nachsingen und möglichst exakt die Töne treffen, ein Computerprogramm rechnet das Ergebnis in Punkte um.

Die japanischen Software-Hersteller haben mit diesem Produkt geschäftlich ins Schwarze getroffen. Es geht weg wie warme Semmeln. Vor allem aber animiert es viele Kinder und Jugendliche zum Singen - sogar jene, die eigentlich zu schüchtern dafür sind.

Dieses Phänomen deckt sich freilich überhaupt nicht mit den Klagen, die seit geraumer Zeit von vielen professionellen Sängern zu hören sind. Der Kammersänger Bernd Weikl kritisierte kürzlich in einem Gespräch mit dem Bayerischen Fernsehen, dass es in Deutschland einen großen Mangel an musischer Erziehung gebe. ,,Es wird nicht mehr gesungen'', sagte Weikl. ,,Weder in den Schulen noch in den Kindergärten.''

Weikl benannte damit ein Problem, das seinen Ursprung in den 60er Jahren nahm. Als damals in den Lehrplänen das Schulfach Singen geopfert wurde, begann die vielfach beschworene Krise.

Im Fach Musik werden die Lieder seither nur mehr erarbeitet, aber nicht mehr gesungen, klagt Ernst Schusser, Leiter des Volksmusikarchivs des Bezirks Oberbayern. In der Tat werden schon Grundschüler an Orff und Beethoven herangeführt, der Musikunterricht wird bereits auf dieser Stufe verwissenschaftlicht.

Schusser nennt noch weitere Urheber der Krise, etwa den höheren Wohlstand: ,,Wenn früher einer musikalisch war, dann hat er gesungen. Jetzt lernt er gleich ein Instrument.'' Auch die Medien seien schuld: ,,CD und Schallplatte bieten Perfektion. Man hört etwas Unerreichbares, dem man nicht nacheifern kann.''

Jeder will mitgrölen

Michael Well von der Biermösl Blosn gibt Schusser im letzten Punkt durchaus Recht. ,,Man wird heute allerorten zugedudelt mit perfekter Musik. Das reizt niemanden zum Mitmachen.'' Dabei hat die Biermösl Blosn schon vor 15 Jahren vorgemacht, wie man die Menschen zum Mitsingen animieren kann.

Ihre Kinderlieder-CD ,,Sepp, Depp, Hennadreck'' war alles andere als perfekt, voller schiefer Töne und voller leidenschaftlicher Texte: ,,Sepp, Depp, Hennadreck, schneids da Katz an Wedel weg, lasst's ihr no a Stutzerl dro, dass's da Deifi schluzn ko''. Schon Säuglinge wackeln bei dieser lustigen Volksmusik mit dem Körper mit, beobachtete Michael Well.

Diese CD war der größte Verkaufserfolg der Biermösl Blosn. Auch bei ihren Konzerten machte die Gruppe die Erfahrung, dass die Menschen aufblühen, wenn sie mitgrölen dürfen und wenn es nicht um Perfektion geht. Ein Phänomen, das seinen Kulminationspunkt im Oktoberfestzelt findet.

Gerade Volkssänger beklagen das Verschwinden des alten Liedguts. ,,Es fehlt das gemeinsame Repertoire an Liedern'', stellt auch Ernst Schusser fest. Dieses wurde früher gewährleistet durch den festen Kanon in den Lehrplänen. Lieder wie ,,Bergvagabunden'', ,,Der Mond ist aufgegangen'' und ,,Wenn die bunten Fahnen wehn'' konnte jeder mitsingen.

Allerdings hat die Volkslied-Tradition durch die nationalsozialistische Vereinnahmung einen bleibenden Schaden genommen. Auch die Volksmusik-Puristen, die am liebsten jegliche Fortentwicklung abwürgen würden, haben der Popularität der Lieder geschadet.

Vor allem aber hat sich der Konsum völlig verändert. ,,Musik ist permanent verfügbar'', sagt Schusser, allerdings verstumme dabei der Mensch. ,,Der Weg geht in die Verstummung und damit in die Verdummung.''

Wissenschaftliche Untersuchungen wie die sogenannte Bastian-Studie bestätigen Schussers These. Musikerziehung habe positive Auswirkungen auf Intelligenz und Sozialverhalten bei Kindern, heißt es dort. Regelmäßiger Gesang wirke sich positiv auf das Gehirn aus, der Mensch werde ausgeglichener, friedfertiger, gesünder und klüger.

Der Staatsregierung wirft Schusser vor, eine Generation von Erziehern und Lehrern falsch ausgebildet zu haben. Staatssekretär Karl Freller betont dagegen, das Kultusministerium habe längst reagiert. Die Initiative ,,Werteerziehung und Persönlichkeitsbildung'' beinhalte auch die Vermittlung von regionalem Liedgut, in allen Lehrplänen aller Schularten sei dies ausreichend berücksichtigt.

Auch Eva-Maria Atzerodt, die Landesbeauftragte für die Schulchöre in Bayern, sieht die Entwicklung positiv. Seit 2005 gebe es für alle Schularten Fortbildungen zum Thema Singen.

Die Nachfrage sei überwältigend. Auch der Bayerische Sängerbund und der Chorverband Bayerisch-Schwaben bieten laufend Fortbildungen für Lehrer an, um sie zum Singen mit den Kindern zu motivieren. Allerdings habe die Einführung des G8 die positive Entwicklung im Gymnasium gebremst, sagt Atzerodt. ,,Viele klagen, dass die Chorstunden aus Zeitnot nicht mehr organisiert werden könnten.''

Die Kinderchöre aber erfreuen sich eines regen Zulaufs, meldet der Sängerbund. Entscheidend sei, dass man die Begeisterung für das Singen weckt, sagt Atzerodt. So wie das auch Ernst Schusser mit seinen Wirtshaussingen gelingt, bei denen jedermann mitmachen darf, auch wenn er den Ton nicht trifft.

,,Hier offenbart sich, wie tief das Singen im Menschen verwurzelt ist'', sagt Schusser. Und es bewahrheitet sich der alte Spruch: ,,Wo man singt, da lass' dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder.''

© SZ vom 16.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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